Es gibt nicht viele TV-Shows aus Europa, die so erfolgreich sind, dass man sich in den USA an einer Adaption versucht. Beim Eurovision Song Contest (ESC) war es zuletzt aber soweit: 2022 veranstaltete NBC einen American Song Contest. Und auch wenn die Umsetzung dann ganz anders war als die des ESC, war die Idee die gleiche. Die US-Version hat allerdings nicht so sehr verfangen, weshalb es keinen zweiten American Song Contest geben wird. Im Gegensatz dazu geht der ESC in diesem Jahr in die 67. Runde, nach den Halbfinals steht nun am Samstagabend das Finale in Liverpool an. 

Und während die deutsche ESC-Fangemeinde mal wieder vor einer herben, musikalischen Niederlage zittert, steht jetzt schon fest, dass ein deutsches Unternehmen auch in diesem Jahr beim Wettbewerb ganz vorne mitspielen wird: digame. Das Unternehmen mit Sitz in Köln führt bei vielen deutschen TV-Shows die Votings durch - und macht das seit vielen Jahren auch beim größten Musikwettbewerb der Welt. Diese Aufgabe ist durchaus anspruchsvoll: Aus allen teilnehmenden Ländern gehen Ergebnisse ein, die überwacht werden müssen. Hinzu kommen die Jury-Votings und, in diesem Jahr ganz neu, auch Ergebnisse aus vielen anderen Teilen der Welt. 

Große Ausfälle oder Manipulationen des Systems hat es in den vergangenen Jahren nicht gegeben. 2022 machten sechs Länder Schlagzeilen, denen sich die nationalen Jurys abgesprochen und gegenseitig Punkte zugeschustert haben, ihre Ergebnisse wurden für nichtig erklärt. Dass der versuchte Betrug aufgeflogen ist, hat die EBU digame zu verdanken, das alle Voting-Ergebnisse auf mögliche Absprachen oder Manipulationen überprüft. "Das ist mir in all den 18 Jahren noch nie passiert und ich bin froh, dass die EBU durchgegriffen hat", sagt digame-Geschäftsführer Thomas Niedermeyer im Gespräch mit DWDL.de. Er vergleicht den ESC mit den Olympischen Spielen: "Das Prestige beim ESC ist für die Länder sehr hoch. Alle wollen die Veranstaltung ausrichten, da gibt es eine große Begierde. Daher ist es auch so wichtig, dass die Ergebnisse valide sind. Das ist unsere Hauptaufgabe, wir schützen den ESC vor illegitimer Einflussnahme."

Und das ist durchaus mit Aufwand verbunden. Für digame ist der ESC ein Event, das sich über das ganze Jahr zieht. Die ersten Produktionsmeetings beginnen im September, die abschließende Analyse nach einem jeden Finale findet im Juni statt. Die Hauptarbeit schultern bei digame drei Personen, die das ganze Jahr über am ESC arbeiten. In der Show-Woche beschäftigt man dann bis zu 60 Personen rund um den Musik-Wettbewerb. Jedes Land wird von einem Mitarbeiter oder Mitarbeiterin einzeln betreut. Fließbandarbeit ist kaum möglich: In einigen Ländern liefern große Telekommunikationsdienstleister die Abstimmungsergebnisse direkt an digame, in anderen sind es zwischengeschaltete Dienstleister. In einigen Ländern kann das Publikum nur per SMS an der Show teilnehmen, in anderen nur per Anruf. Und wiederum andere haben ausschließlich die Möglichkeit, online für ihre Favoriten abzustimmen. Was möglich ist, und was nicht, hängt meist mit der Geschichte des jeweiligen Landes zusammen. In Osteuropa wurde nach dem Fall des Eisernen Vorhangs beispielsweise wenig in Infrastruktur investiert, weshalb hier oft nur SMS-Votings möglich sind. 

digame Büro während ESC © digame In welchem Büro werden welche Länder betreut? Während der ESC-Woche nutzt man in den digame-Räumen in Köln viele Zettel, um den Überblick zu behalten.

In jedem Fall koordiniert und überwacht digame alle Ergebnisse, auch wenn sie von anderen Dienstleistern erhoben und weitergeleitet werden. Das ist auch deshalb möglich, weil das Unternehmen Zugriff auf die Echtzeit-Daten in allen Ländern hat. "Wir sind die zentrale Koordinationsstelle, die für alle Votings zuständig ist", sagt Thomas Niedermeyer. Um Missbrauch zu verhindern, sind die Sicherheitsvorkehrungen hoch. Passwörter für die zentrale Plattform, in der die Voting-Ergebnisse eingetragen werden, leitet man erst am Tag der jeweiligen Sendung an die jeweils Verantwortlichen weiter. Jedes Ergebnis muss zudem verifiziert werden und ein zweites Mal auf einem anderen Weg an digame übermittelt werden. Zudem kommuniziert man wichtige Dinge nur verbal an bekannte Personen. Und es muss auch nicht immer eine wissentliche Manipulation sein: Manchmal ranken etwa die nationalen Jurys aus Versehen falsch herum, was im besten Fall frühzeitig durch digame auffällt, damit noch Zeit für eine Korrektur bleibt. 

digame kümmert sich nicht nur um die Technik

Thomas Niedermeyer © digame Thomas Niedermeyer
Aber digame ist nicht nur für die technische Umsetzung des Votings zuständig. Das deutsche Unternehmen ist auch am kreativen Prozess der ESC-Herzstücks beteiligt. Es gab mal eine Zeit beim ESC, in der das Voting am Ende der Show schnell langweilig wurde, weil sich bereits nach wenigen Minuten ein Favorit herauskristallisierte. "Das fing damals bei Alexander Rybak an. Da war schon nach der Hälfte der Spokespersons bekannt, wer der Gewinner der Show ist. In den Jahren danach ist das immer wieder passiert", sagt digame-Chef Niedermeyer gegenüber DWDL.de. Zusammen mit der EBU setzte man sich also hin und versuchte, das Ende der Show spannender zu machen. Und das möglichst bis zum Schluss. 

Die wohl weitreichendste Änderung beim Voting wurde 2016 eingeführt. Seither werden zunächst die Jury-Punkte verliehen, dafür schaltet man wie gehabt in die einzelnen Länder. Erst danach kommen die Ergebnisse des Televotings dazu: Dabei werden alle Punkte aus der Abstimmung der Zuschauerinnen und Zuschauer zusammengerechnet und vergeben, angefangen mit dem Act, das die wenigsten Jury-Punkte erhielt. So bleibt es, sofern man nicht mit einem Taschenrechner vor dem Bildschirm sitzt, tatsächlich oft spannend bis zum Schluss. "Wir begleiten die letzte Stunde der Sendung ganz aktiv mit und sind darauf sehr stolz", sagt digame-Geschäftsführer Thomas Niedermeyer, der von einer Herausforderung spricht. "Aber es hat auch Spaß gemacht, neue Wege zu entwickeln, um das Voting interessant zu halten."

Zusammen mit Martin Österdahl, heute Executive Supervisor des ESC, habe man die neue Art der Ergebnispräsentation entwickelt, erklärt Niedermeyer. Seit 18 Jahren ist der digame-Chef nun schon beim ESC involviert. Inzwischen ist er sowas wie die rechte Hand von Martin Österdahl, wenn es um das Voting geht. "Ich berate und unterstütze ihn und stelle sicher, dass valide Ergebnisse präsentiert werden." Am Austragungsort ist Niedermeyer mit einem kleinen Team präsent, um auf die Ergebnisse zu schauen und gegebenenfalls auf Probleme aufmerksam zu machen. Zur Aufgabe von digame gehört es aber beispielsweise auch sicherzustellen, dass in den Shows die richtigen Ergebnis-Grafiken eingeblendet werden. Auch die Spokespersons aus den verschiedenen Ländern erhalten die Ergebnisse von digame. 

Thomas Niedermeyer ESC 2014 © digame Zum ESC-Finale ist digame-Chef Thomas Niedermeyer auch in der Halle ganz nah dran. Hier 2014 in Kopenhagen neben dem damaligen ESC-Boss Jon Ola Sand.

Und auch in diesem Jahr gibt es wieder kleinere Änderungen bei den Votings. So haben in den Halbfinal-Shows nur noch die Zuschauerinnen und Zuschauer über das Weiterkommen der Acts entschieden. Das bedeutet aber nicht, dass es die Jury-Votings nicht mehr gebraucht hätte - sie gab es weiterhin, um im Notfall darauf zurückgreifen zu können. Zudem können Menschen in Ländern, die nicht am ESC teilnehmen, erstmals auch an der Abstimmung teilnehmen. Sie haben online eine entsprechende Möglichkeit, am Ende werden die Ergebnisse aus all diesen Ländern kombiniert - sie zählen also so viel wie die eines teilnehmenden Landes. Um Missbrauch zu vermeiden, ist das Online-Voting kostenpflichtig und es muss eine Kreditkarte hinterlegt werden. So schließt man aus, dass etwa auch Zuschauerinnen und Zuschauer aus teilnehmenden Ländern beim Online-Voting mitmachen. 

In Deutschland ist das Voting via Anruf und SMS breit akzeptiert und wird sich noch einige Jahre halten, aber auch hier wird das Festhalten an einen Ur-alten Tarif irgendwann zum Problem werden.
digame-Geschäftsführer Thomas Niedermeyer


Das Online-Voting hat es im vergangenen Jahr bereits in Australien gegeben. Also dem Land, das seit 2015 regelmäßig am ESC teilnimmt. Dort sei das System gut angenommen worden, sagt Thomas Niedermeyer. Außerdem wird es in Israel 2023 erstmals nur ein Online-Voting geben, Anrufe und SMS wurden abgeschafft. Doch wieso nicht flächendeckend das Online-System einführen, das sehr stark von jüngeren Menschen genutzt wird? Das ist nach Angaben des digame-Geschäftsführers mit Aufwand verbunden, weil man mit jedem teilnehmenden Sender sprechen und das System gegebenenfalls umstellen müsste. Gut möglich aber, dass in Zukunft weitere Länder online abstimmen lassen. "Ich weiß nicht, wie lange Call- und SMS-Votings in den verschiedenen Ländern noch praktikabel sein werden. Mit unserem Online-Voting sind wir für Veränderungen aber gut gerüstet", sagt Niedermeyer. Was er damit auch meint: In vielen Ländern, dazu zählt auch Deutschland, sind die Preise für Anrufe bei TV-Gewinnspielen oder Votings über Jahrzehnte gleich geblieben - und bei stetig steigenden Kosten in nahezu allen anderen Bereichen wird es finanziell zunehmend unattraktiv, entsprechende Televotings durchzuführen. "In Deutschland ist das Voting via Anruf und SMS breit akzeptiert und wird sich noch einige Jahre halten, aber auch hier wird das Festhalten an einen Ur-alten Tarif irgendwann zum Problem werden", so Niedermeyer.

Der größte anzunehmende Unfall für digame, die EBU und die ganze ESC-Fangemeinde wäre sicherlich ein Ausfall der Voting-Systeme am Tag des Finals. Einen kompletten Ausfall des Zuschauervotings hält Niedermeyer allerdings für "ziemlich unwahrscheinlich". Grund dafür ist die Vielzahl an Unternehmen und Dienstleistern, die in den Ländern mit der Erhebung beauftragt sind. Ein Angriff auf alle Firmen und ein daraus resultierender Ausfall aller Ergebnisse wäre eine ziemlich komplexe Sache. Dennoch hat man vorgesorgt. "Die Votingregularien des ESC sind so definiert, dass wir immer ein Ergebnis generieren können", sagt Niedermeyer im Gespräch mit DWDL.de. So gebe es Notfallpläne für alle Eventualitäten. "Die Jurys sind das ultimative Backup für das Voting der Zuschauerinnen und Zuschauer." Das heißt konkret: Sollte es tatsächlich mal dazu kommen, dass man die Voting-Ergebnisse des Publikums aus welchen Gründen auch immer nicht nutzen kann, würden die Punkte der nationalen Jurys den Gewinner-Act bestimmen. 

Deutschland ist das aktivste Land beim Voting

Für alle Beteiligten wäre das aber ein Worst-Case-Szenario. "Dass wichtigste ist, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer des ESC bestimmen, wer den Wettbewerb gewinnt. Dass langfristig zu sichern, ist eine große Aufgabe, die wir mit großer Begeisterung annehmen", so Thomas Niedermeyer, der auch sagt, dass Versuche, das Voting zu manipulieren, weniger geworden seien. "Die Leute haben verstanden, dass es nichts bringt." 

Genaue Einblicke in die Voting-Ergebnisse des ESC darf Thomas Niedermeyer nicht geben. Was er aber verrät ist: Deutschland sei das mit Abstand aktivste Voting-Land beim ESC. "Weitere sehr aktive Länder sind Schweden, Norwegen oder auch Großbritannien", so der digame-Chef. Völlig freie Hand lässt die EBU digame übrigens nicht: Überwacht wird die Arbeit der Voting-Experten von Wirtschaftsprüfern von Ernst & Young (EY), die sowohl in Köln in der Unternehmenszentrale von digame, als auch in Liverpool am Veranstaltungsort, eingesetzt werden. Diese sogenannten Independent Voting Observer überwachen alle Schritte rund um das Voting. Im Nachgang an die Finalshow wird nochmal alles nachgerechnet und verifiziert. Gibt EY grünes Licht, kommt meist noch in der Nacht das offizielle Endergebnis samt Zertifikat der Wirtschaftsprüfer. Und natürlich arbeiten auch bei digame Personen, die alle Schritte der Kolleginnen und Kollegen überwachen. Niemand will sich sagen lassen, es beim ESC nicht so genau genommen zu haben.