Schon während seiner Zeit bei "Bild" galt Julian Reichelt als streitlustig, Kritik gab es an vielen seiner Aussagen. Heute muss man wohl schon froh darüber sein, dass der Verlag und die Redaktion damals häufig als Korrektiv gedient haben. Als die "FAZ" 2017 über einen Auftritt Reichelts bei "hart aber fair" berichtete, hieß es, der "Bild"-Chef arbeite mit "der Methode eines Revolver-Journalismus", der "Emotionen hochpeitscht, und in erster Linie nach Feinden sucht". Das setzt Reichelt mittlerweile auf seinem Youtube-Kanal "Achtung, Reichelt!" fort, aber ganz offenkundig ohne Korrektiv.

Schaut man sich über mehrere Tage die regelmäßig veröffentlichten Videos von Reichelt an, könnte man annehmen, Deutschland stünde kurz vor dem Bürgerkrieg und an allem sind unfähige Politikerinnen und Politiker schuld (und natürlich auch die öffentlich-rechtlichen Medien). Reichelt betreibt auf seinem Youtube-Kanal keinen Journalismus, er versucht dort Meinung gegen bestimmte Gruppen zu machen und haut deshalb auffällig oft in dieselbe Kerbe - und hat damit Erfolg. 

Wie groß der Kanal von Reichelt mittlerweile ist, erstaunt durchaus. Vor ziemlich genau einem Jahr ging das erste Video online, inzwischen steht der Kanal bei mehr als 330.000 Abonnentinnen und Abonnenten - und die sind durchaus aktiv. Innerhalb von 24 Stunden schaffen es so gut wie alle Videos von Julian Reichelt auf mehr als 100.000 Abrufe, einige davon haben teils sogar deutlich mehr. Ein Video über "Grüne Nichtskönner" sowie Migranten in Deutschland ("Jung, männlich, gesetzlos") erreichen rund 1,5 Millionen Views. 

Und so wenig subtil die Video-Titel sind, so sehr bedient sich Reichelt dann auch in den Videos selbst der Holzhammer-Methode. Da heißt es dann, dass die Bundesregierung alles zerstören will, was die Menschen in diesem Land aufgebaut haben. Reichelt behauptet, die Regierung könne bald nach Gutdünken Heizungen in allen Haushalten abschalten und das Bundesverfassungsgericht würde nur noch "linksgrüne Vorstellungen" vollstrecken. 

Umdeuten, weglassen und viel Unverständnis

Reichelt bedient sich eines einfachen Tricks: Er bespricht aktuelle Themen, beleuchtet dabei aber nicht alle Seiten. Im Gegenteil: Meistens stellt er genau die Seite ins Schlaglicht, die ihm am besten in den Kram passt. Das Urteil des Bundesverfassungsgericht interpretiert er bewusst falsch und tut so, als ob in Deutschland künftig Kinderehen erlaubt werden sollen. Umdeuten, weglassen und ganz viel Unverständnis draufkippen: Das ist das Prinzip von Julian Reichelt. 

Dabei hat Reichelt einen Lieblingsgegner: die Grünen. Die machen nämlich alles falsch, tyrannisieren das ganze Land und wollen allen Menschen ihre vermeintliche Ideologie aufzwingen. Klimawandel? "Vor nichts haben die Deutschen so wenig Angst wie vor dem Klimawandel", behauptet Reichelt - einer zuvor eingeblendete Grafik konnte man genau das aber nicht entnehmen. Auch bei der sogenannten "Wärmewende" rührt Reichelt eine klebrige Angst-Soße: Alle würden gezwungen, ab 2024 eine Wärmepumpe einzubauen. Die kann der Staat abschalten! Alle haben Angst. Hilfe! Die Grünen hätten mit ihrer Klimapolitik eine "geschlossene Welt des Wahnsinns" geschaffen, unkt Reichelt. Und irgendwie trifft diese Bezeichnung auch ziemlich gut auf die Videos des ehemaligen "Bild"-Chefredakteurs zu. 

Richtig abgedreht wird es in den Videos von Julian Reichelt oft dann, wenn er mit anderen Menschen spricht. Die Schauspielerin Giovanna Winterfeldt sagt etwa, sie sehe "schwarz für uns als Menschheit", wenn es mit den angeblichen Sprechverboten so weitergehe. Die rechtsgerichtete Politik-Kommentatorin Eva Vlaardingerbroek, die auch schon bei Tucker Carlson auf Fox News und beim britischen GB News auf Sendung war, meint, es gehe der Politik um eine "totalitäre Agenda" und natürlich sieht sie auch einen Kontrollstaat auf die Menschen zukommen. Später redet die Niederländerin mit Reichelt noch über furzende Kühe und dass Bill Gates da auch ganz tief drin stecke. 

Silvester-Böllerei und Krieg in der Ukraine sind quasi das gleiche

Den Vogel schießt aber ein Gespräch zwischen Julian Reichelt und Gloria von Thurn und Taxis ab. Die Fürstin ist regelmäßig zu Gast bei Reichelt und in ihrer Historie ist sie nicht arm an seltsamen Aussagen. "Die Energiewende wird in Geschichtsbücher eingehen als der größte epochale Schwindel", sagt sie und man merkt schnell, dass auch sie mit den Grünen offenbar nur wenig anfangen kann. Die Grünen wollten schließlich das Böllern an Silvester verbieten, seien aber für Schießereien in der Ukraine - und die sind ja auch schlecht fürs Klima. Windräder schreddern außerdem ganz viele Vögel und verändern den Luftdruck, das sei noch gar nicht richtig untersucht! Und Julian Reichelt? Der lacht diese Aussagen einfach weg und tut so, als ob die verrückte Oma auf dem Schirm ja irgendwie auch recht hat. 

Deutschland soll nicht mehr das erfolgreichste Land in Europa sein, ist Gloria von Thurn und Taxis überzeugt. "Wir sollen verarmt werden", sagt sie irgendwann. Es schwingt immer ein bisschen der Mythos der neuen Weltordnung mit, die eine mächtige Gruppe (hier: die Grünen!) errichten will. Natürlich wird dabei nie klar, welche Interessen die Grünen daran haben sollten, die Menschen in Deutschland verarmen zu lassen. Aber das muss man auch gar nicht erklären, bei vielen Zuschauerinnen und Zuschauern dürften solche Aussagen auf fruchtbaren Boden fallen - und beim nächsten Mal schalten sie wieder ein und geraten so in einen Strudel aus immer scheußlicheren Weltuntergangsszenarien. Die genannten Beispiele stammen übrigens bloß aus einer handvoll Sendungen, die in den vergangenen Tagen veröffentlicht wurden. 

Julian Reichelt spielt seine Rolle übrigens nicht schlecht. Er versucht oft ruhig und nachvollziehbar zu argumentieren, sodass er auch gemäßigtere Zuschauer mit seinen Botschaften abholt. Diese Zuschauer wären vielleicht verschreckt von einem aggressiven Auftreten, das weiß Reichelt und vermeidet es entsprechend. Julian Reichelt hat erkannt, dass es einen Markt gibt für seinen Kanal - und die Zahl der Abonnenten unterstreicht das. Nur eines muss jeder User wissen: "Achtung, Reichelt!" ist vielleicht so einiges, aber kein Journalismus, der Themen von verschiedenen Seiten betrachtet. Reichelt betreibt Meinungsmache und das ist offensichtlicher denn je. Das alles ist auch deshalb so gefährlich, weil Reichelt unter dem Deckmantel des unerschrockenen Aufklärers mit seinen Videos Giftsamen in die Köpfe der Zuschauer pflanzt, die dort gedeihen und von Folge zu Folge wachsen. Reichelt trägt so ganz wesentlich mit bei zur Spaltung der Gesellschaft. 

Schlecht umgedeutet

Zwischenzeitlich scheint es, als habe Reichelt ganz vergessen, wie Journalismus funktioniert. In einer Sendung von Anfang April spielt er einen Beitrag des dänischen Fernsehens ein, darin wird Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck von einer Journalistin interviewt. Die Frau macht dabei ihren Job und fragt Habeck kritisch rund um den Atomausstieg aus. Reichelt kann das offenbar kaum fassen und schlussfolgert: Niemand versteht den Weg der Deutschen beim Thema Atomenergie. Schlechter kann man ein Interview wohl nicht umdeuten. 

"Das war Achtung Reichelt - der härteste Gegner von Scheinheiligkeit, Propaganda und Heuchelei in der Politik." So beendet Julian Reichelt jede seiner Sendungen und in diesem Satz stecken so viele Lügen, dass es schon wehtut ihn zu hören. Vermutlich glaubt Reichelt das nicht einmal selbst. Aber er ist schlau genug um zu wissen, dass er damit ein großes Publikum erreicht. Und das wird ihm wohl auch in Zukunft reichen, um den Untergang Deutschlands zu beschwören. Und da ist er dann wieder, der Mann, der Emotionen hochpeitscht und nur nach Feinden sucht.