Wer von ganz unten nach ganz oben will, braucht je nach Gipfelkontur Geld, Kraft, das nötige Rüstzeug. Was den Aufstieg in Ermangelung all dessen allerdings sehr erleichtert, ist: Selbstbewusstsein. Etwas also, wovon der schöne Klaus sogar noch ein wenig mehr hat als blonde Locken. Das braucht er auch. Denn sein „unten“ ist mit „tief“ noch untertrieben: Klaus, bürgerlich Barkowsky, schläft ziemlich unschön im Klo einer Kneipe von verranzter Schäbigkeit. Wo auch sonst?

Er hat kein Geld, er hat kaum Kraft, er hat null Rüstzeug, er hat ja nicht mal echte Locken, nur Dauerwelle, und die ist gefärbt. Im St. Pauli der frühen Achtziger, wo Männer meist schnauzbärtige Macker waren und Frauen ihr Freiwild, kommt man damit nicht weiter. Es sei denn, das Ego läuft einem aus Augen, Mund und Nase oder wie es die Sprecherin der umwerfenden Prime-Serie „Luden“ aus dem Off formuliert: Um einer davon zu sein, darfst du „nicht ganz blöd, nicht ganz hässlich, nicht ganz feige sein“.

Viel Potenzial also für den aufgeweckten, rehkitzäugigen, unerschrockenen Habenichts aus dem Rotlichtviertel, um mithilfe von (besagter Erzählerin) Jutta seinen Traum zu erfüllen. Ein deutsches Studio 54, in dem New Yorks Boheme um Andy Warhol damals „feiert, vögelt, Bilder ausstellt“ – das will dieser Emporkömmling vom Kneipenklo auch auf St. Pauli. Und wie ihn der Traumtänzer mit Herz, Hirn, Schnauze vorantreibt: davon erzählt die Münchner Filmschmiede NeueSuper in ihrer bislang umfangreichsten Fernsehproduktion. Besser: sie berichtet.

Denn die Luden in „Luden“, wie Zuhälter hier oben heißen, gab es ja wirklich. Klaus Barkowsky etwa, mit hitzköpfiger Kaltschnäuzigkeit vom eingeborenen Aaron Hilmer verkörpert, ist vor 45 Jahren die Kiezkarriereleiter zum Chef der Nutella-Bande hochgeklettert und dabei der etablierten Konkurrenz ins Gehege gekommen. Frieda Schulz (Nicki von Tempelhoff) etwa vom Großbordell Chikago oder dem GMBH genannten Zuhälterquartett um Mischa (Stefan Konarske) und seinen Schläger Beatle (Karsten Antonio Mielke).

Zu wild, um wahr zu sein

Sechs Stunden erzählen die Headautoren und Schöpfer der Serie - Niklas Hoffmann, Peter Kocyla und Rafael Parente - zusammen mit Vivien Hoppe und beraten von Stephen Schiff also eine Räuberpistole, die sich so ähnlich ereignet haben könnte und dennoch zu wild wirkt, um wahr zu sein. Das Regie-Duo Laura Lackmann und Stefan A. Lukacs weder Kulissen- noch Kostümkosten gespart, damit ihr exzellentes Ensemble am Drehort München den Sündenpfuhl St. Pauli jener Tage glaubhaft widerspiegelt. Während die Hansestadt ihr engbesiedeltes Hafenquartier damals gezielt zur menschlichen Müllhalde verlottern ließ, brachte der schöne Klaus Farbe ins Rotlichtviertel und unterzog es somit der nächsten Metamorphose.

Von Pfeffersäcken, Pest, Nazis, der stinkenden Dampfschifffahrt 300 Jahre ins soziale Abseits manövriert, brachte Barkowskys neonschwarzer Lamborghini die lausige Reeperbahn ebenso zum Glänzen wie der Schimmel, auf dem er in Folge 3. seinen Puff eröffnet. So viel Aufbruch hatte St. Pauli seit Freddy Quinns Tiroler Matrosenromantik nicht mehr erlebt, und Aufbruch, wer wüsste das besser als Entertainer wie Parente („Hindafing“), hat nicht nur Potenzial für gute, sondern fortsetzbare Unterhaltung – sofern ihm der Abbruch innewohnt.

Deshalb zeigen seine „Luden“ den Kiez auch selten als Spielplatz artifizieller Fernsehfiguren, mit denen das Historytainment gern seine Geigensoundtracks übermalt. Hauptverantwortlich für die Authentizität ist vor allem Jeanette Hain als heroinsüchtig ruinierte, moralisch verrohte, zugleich höchst empathische Jutta. Ihre Straßenstricherfahrung hilft dem Grünschnabel Klaus ins Revier breitbeiniger Platzhirsche. Sie holt ihn aber auch regelmäßig vom Sockel seiner großmäuligen Naivität zurück, die Aaron Hilmer sensationell zwischen Persiflage und Zeitgeschichte pendeln lässt.

Luden © Prime Video / Susanne Schramke Die Kiez-Serie "Luden" spielt im Hamburg zu Beginn der 1980er Jahre.

Juttas leicht didaktische Kalenderweisheiten vom „Sammelbecken für Tagträumer und Nachtschwärmer“ bis „auf St. Pauli gibt’s nie was geschenkt“, nerven dabei zwar noch mehr als ihre verlorene Tochter (Lena Urzendowsky), die auf der Suche nach Mutti im selben Moloch landet; selten zielte ein Seitenstrang berechenbarer aufs Familiengemüt. Doch die Trostlosigkeit ihres physischen und psychischen Verfalls steht auch fürs ungeschminkt Unerträgliche am Männermachtapparat, in dem gar nichts schillernd, aber alles schrecklich ist.

Unter der Oberfläche des liebenswerten Klaus und seiner Freunde – dem sexuell diversen Bernd (fernsehpreiswürdig: Noah Tinwa) und dem boxenden Choleriker Andy (grimmepreiswürdig: Henning Flüsloh) – brodelt schließlich ein Herrschaftssystem weiblicher Warenförmigkeit, das „Luden“ frei vom Pathos karnevalesker Milieustudien ausstattet. Im Kessel Buntes sadomasochistischer Fiktionen wie Fatih Akins „Der Goldene Handschuh“ und sachlicher Dokumentationen à la „Die Paten vom Kiez“, balanciert die Serie somit auf federnde Art lehrreich auf dem Rand.

Vergewaltigungen – damals noch mehr als heute Regel statt Ausnahme sexueller Arbeit – werden erfreulicherweise nur angedeutet, nie unterschlagen. Dass Koks, Aids, Schusswaffengebrauch die Charmeoffensive des schönen Klaus beenden, wird spätestens Richtung Staffelfinale klar. Die weißen Pferde sind bereits müde, bevor Gentrifizierung, Kommerz, sozialer Kahlschlag das fehlinterpretierte Wohngebiet mit Partymeile erneut auf- und wieder abwerten. Viel Fortsetzungsstoff also für den „Fan journalistischer Recherche“, wie sich Parente per Zoom selbst bezeichnet, aber kein Journalist sei, „sondern Geschichtenerzähler“.

Aus Sicht eines Kiezbewohners wie dem Autor dieser Empfehlung darf er gerne vom „Tummelplatz für Misfits“ weiterzählen, die für Amazons Serien-Chefin Petra Hengge, „ihren Platz in der Gesellschaft suchen“. Fündig wurden dabei nur wenige, schon gar kein schöner Klaus, ein Gescheiterter seiner eigenen Eitelkeit, der noch immer durchs Viertel stolziert wie Filmpendent Hilmer, nur ohne Schimmel. Immerhin wurde er nicht erschossen. Der Großteil seiner Konkurrenten schon.

DisclaimerDer Autor hat in den späten 80ern und frühen 90ern in diversen Clubs auf St. Pauli als Türsteher und Bühnentechniker gearbeitet und lebt seit 20 Jahren unweit der Reeperbahn.

"Luden - Könige der Reeperbahn", ab sofort bei Prime Video

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