Vor anderthalb Monaten hat sich Ilka Bessin die alte Lockenperücke mit der Blume wieder aufgesetzt, grotesk viel Schminke ins Gesicht geschichtet und den pinken Jogginganzug angezogen, um auf die Bühne rauszugehen und zu singen: "Hallohallo, ey, wie schön, dass ihr da seid. Ich hab diesen Augenblick so lange vermisst."

Anschließend hat sie "Guten Abend, Halle!" ins Mikro gerufen und da weitergemacht, wo sie vor sechs Jahren stehen geblieben war: bei Witzen über die eigene Leibesfülle, Schulversäumnisse ihres Enkels "Kevin-Maria", albernes Mittelschicht-Getue und Erlebnisse mit ihrer Tochter "Jennyli", die eigentlich Jennifer-Justine-Cheyenne-Chantal-Janice heißt, "is'n Doppelname".

Für ihre "Cindy aus Marzahn Show" bei RTL ist sie in die Rolle von Beate Bond, geborene Bumms, geschlüpft: "Im Dienste ihrer Mayonnaise"; sie hat sich als Verschollene einen blonden Zwirbelbart wachsen und die irre Gegenwart an sich vorbei ziehen lassen, einen Eimer Sangria leerend nervige Helikoptereltern vom Spielplatz verjagt und für die Karriere als Influencerin ihre Zunge in einen Schokobrunnen gehalten, hernach "Wurstlollies mit Crunch" zu erfinden und der sie anheischenden Supermarktverkäuferin, sie dürfe im Laden nicht einfach rumsitzen und alles aufessen, ganz in Ruhe zu erklären: "Im Liegen kann ich nicht." Dazwischen hat sie überschwänglich "großartige" Gäste begrüßt, die zu den "lustigsten" Comedians des Landes gehören sollten – aber meistens stand anschließend dann doch nur Mario Barth auf der Bühne.

Gratulation zur Rollenablegung

Und schon die Standing Ovations, die lauten Lacher aus dem Publikum und die eigens in Cindy-Verkleidung angereisten Zuschauerinnen im Saal werden dafür gesorgt haben, dass sich all das nicht wie ein Rückschritt angefühlt haben wird. Obwohl es in den vergangenen Jahren ein großer Teil von Bessins Geschichte gewesen ist, immer wieder zu erzählen, wie das war, sich von der selbst erfundenen Kunstfigur zu lösen.

2016 hatte Bessin dem "Spiegel" überraschend eröffnet, mit sofortiger Wirkung nicht mehr als Cindy aus Marzahn auftreten zu wollen – die Figur, die ihr einst half, sich aus der eigenen Arbeitslosigkeit rauszurocken: "Wenn man sich elf Jahre lang Abend für Abend eine Perücke aufsetzt und einen pinkfarbenen Jogginganzug anzieht, muss man aufpassen, dass die Leute nicht irgendwann sagen: Boah, ich kann den Scheiß nicht mehr sehen. So weit soll es nicht kommen."

Ihre 2018 erschienene Biografie kündete danach von der "Frau, die 'Cindy aus Marzahn' war" und dokumentierte "das wahre Leben von Ilka Bessin". Ihr Premieren-Soloporgramm hieß "Abgeschminkt und trotzdem lustig". Und erst im Februar dieses Jahres berichtete sie in der "NDR Talkshow" gegenüber Hubertus Meyer-Burkhardt, der ihr mit "Gott sei Dank" nachträglich zur Rollenablegung gratulierte, über die Erkenntnis, "dass man sich nicht verkleiden muss, um jemand zu sein".

Gesellschaftskritisch und bummsbereit

Aber die ihr aus dem Hallensischen Publikum als zurückgekehrte Cindy zufliegenden Sympathien werden Bessin auch ein bisschen gut getan haben, nachdem die in Luckenwalde geborene Komikerin auf ihrer Mission, mehr "sie selbst" zu sein, zuletzt nicht gerade vom Quotenglück verfolgt war. Obwohl das weder ihrer Person anzulasten noch gerecht ist.

Denn zu einem muss man Bessin ganz unbedingt gratulieren: Sie hat es – trotz ihres Erfolgs als schrilles, bummsbereites, sich selbstüberschätzendes Hartz-IV-Klischee, das beim Publikum nach wie vor einen Nerv trifft – geschafft, danach ernst genommen zu werden. So ernst, dass das Fernsehen sie immer wieder auch für gesellschaftskritische Formate engagiert.

Bereits 2017 stand Bessin im Auftrag von "stern tv" für Reportagen über soziale Gerechtigkeit vor der Kamera. Zwei Jahre später setzte sie sich neben Heinz Buschkowsky in die Jury der umstrittenen RTL-Sendung "Zahltag – Ein Koffer voller Chancen", die Familien dabei zusah, wie sie trotz üppiger Geldgeschenke daran scheiterten, sich selbst aus der Hartz-IV-Falle zu befreien. Und im vergangenen Jahr moderierte sie im RTL-Nachmittagsprogramm "Deutschlands härteste und witzigste Verbrauchershow" "Echt jetzt?!", für die ihr RTL extra ein eigenes Kiosk gebaut hat, in dem es um alltagsnahe Themen wie Hunde-Kidnapping, E-Scooter-Wut, gefälschte Impfausweise, Wohnungsnot, Stress in der Pflege, betrügerische Heizungsnotdienste, Einbruchsgefahren und die Nützlichkeit von Küchengadgets ging.

Ich kann mir vorstellen, wie's dir geht

Das war nicht so erfolgreich wie erhofft – und überlebte deshalb nur wenige Wochen. Obwohl Bessin darin hervorragend demonstrierte, wie gut sie das kann: abwechselnd mit Experten zu sprechen, die dem Publikum wichtige Tipps zu Fenstersicherung vermitteln, und Hundebesitzerinnen, die schildern, wie schrecklich das war, als ihnen der Vierbeiner entführt worden ist.

Das liegt auch daran, dass man es ihr abnimmt, wenn sie eigene Erfahrungen einbringt, um sich in andere einen zu versetzen (so wie einst bei der Entwicklung der Rolle einer jogginganzugtragenden Grundsicherunsgempfängerin): "Ich kenn das von meinem eigenen Hund …", sagt sie dann, oder: "Mir wurde vor ein paar Tagen der Fahrrad geklaut, ich weiß, wovon ich rede ….", oder: "Meine Mutter hat früher immer gesagt …" Bevor sie mit einem konkreten Ratschlag schließt: "Ich würde den Zuschauern gern eins mit auf den Weg geben …"

Wie stark Bessin in der Rolle als Vermittlerin ist, durfte sie vor anderthalb Wochen in der Vox-Reportage "Ilka Bessin – Liebesbetrügern auf der Spur" demonstrieren. In der ging es um sich einsam fühlende Frauen, denen Betrüger im Internet vorspiegeln, sich in sie verliebt zu haben, um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen.

"Heidi, ich bin Ilka", schüttelte Bessin einer Betroffenen die Hand an der Tür, um sich dann zu ihr an den Küchentisch zu setzen und ihre (für Außenstehende) unglaublich klingende Geschichte anzuhören. Und genau in dem Moment, in dem man sich als Zuschauer:in fragte, ob man nicht misstrauisch werden muss, wenn einem der Schlagersänger "Ben Zucker" per Whats App seine große Liebe eröffnet und die mit einem fünfstelligen Euro-Betrag gegenbewiesen haben will, schilderte Bessin nachvollziehbar, wie der Zirkel aus Täuschung, Abhängigkeit und Scham beim "Romance Scamming" funktioniert: "Einige werden sagen: So doof kann man gar nicht sein. Aber ich spreche aus eigener Erfahrung: Wenn man liebt, dann liebt man. Man will einfach glücklich sein. (…) Das ist mir auch schon passiert. Das kann jedem passieren."

Erstmal einen Schnaps

Ihrer Gesprächspartnerin sagte Bessin, "dass ich das ganz toll finde, dass du das erzählst". Dazwischen unterhielt sie sich mit einem Psychologen, einer Rechtsanwältin, der Polizei und hat den engagierten Frauen der "Romance Scam Baiter Deutschland" zugehört, die den Betrüger:innen auf die Schliche zu kommen versuchen, indem sie Geldübergaben fingieren und Mittelsmänner auffliegen lassen.

Und zwar in diesem Fall: mit versteckter Kamera auch nochmal für Vox mit Bessin als staunender Beobachterin und moralischer Unterstützung im Hintergrund, die zum Schluss erst eine sichtlich aufgelöste Heidi in die Arme nahm und dann mit drei Worten den Tag zusammenfasste: "Ich brauch'n Schnaps."

Obwohl das Thema für die Sender der Mediengruppe RTL kein neues ist, war die Reportage in vielerlei Hinsicht bemerkenswert – und zwar in erster Linie, weil es Bessin gelang, mit großer Sensibilität ein Problem einzuordnen, das Nichtbetroffenen erstmal kurios vorkommen mag, und es aus Sicht der Opfer so zu erklären, dass es nachvollziehbar wird: "Es gibt bestimmt viele, denen sowas passiert und es muss sich keiner schämen, damit zur Polizei zu gehen. Das ist ganz wichtig, dass wir darauf hinweisen." (Was sehr, sehr viel hilfreicher sein dürfte, als wenn RTL-"Wahrheitsjäger" Tamer Bakiner wie 2019 auf "Undercover-Mission" in Kenia einen "Romance Scamming"-Ring zu sprengen versucht.)

Mit Empathie einfach mal zuhören

Dass "Liebesbetrügern auf der Spur" unterm Strich leider doch den Eindruck hinterließ, arg hastig zusammengeklöppelt worden zu sein (zumal Bessin im zweiten Teil der Reportage überraschend gar nicht mehr auftauchte), ist schade. Und gerade weil die Quoten (wieder mal) nicht besonders gut waren, würde ich mir wünschen, dass sich RTL oder Vox darauf besännen, Bessin demnächst regelmäßig die Chance zu geben, sich als einfühlsame Zuhörerin auf die Seite ihrer Gesprächspartner:innen zu schlagen, um gesellschaftliche Phänomene besser einzuordnen als es jede Gesprächsrunde irgendeines "stern tv"-Extra-Spezials könnte.

Zu Bessins Talenten scheint es eben nicht nur zu gehören, als pink uniformierte Comedy-Kunstfigur zu konstatieren: "Wenn ich könnte, ich würde mich selber vögeln" – sondern auch, als 50-jährige Berlinerin mit großer Empathie auf Leute zuzugehen und sie dank einer ungekünstelt wirkenden Nahbarkeit vor Fernsehkameras von Problemen berichten zu lassen, die man sonst selbst seiner besten Freundin bzw. seinem besten Freund nur sehr zögerlich anvertrauen würde.

Das Beste daran ist, dass das – wie mir scheint – keine Entweder-Oder-Entscheidung zu sein scheint: Cindy und Ilka können ganz gut parallel nebeneinander existieren, schon weil sie diametral entgegengesetzte Ziele haben. "Ich werde euch heute den Abend versüßen, die Zeit steht für'n Augenblick still", singt die eine, um ihr Publikum vom Alltag abzulenken – bevor die andere versucht, sie auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen. Das ist: eine Kunst.

Das Kostüm und der Applaus

"Ich weiß, das es nicht jedem gefällt, was ich mache und das ist auch ok, aber ich bin auch nicht auf der Welt um jedem zu gefallen", hat Bessin kürzlich nachdenklich in ihr Instagram hinein notiert, und vorher schon in der "NDR Talkshow" gesagt, sie habe gelernt, "dass man auch ohne Kostümierung jemand ist", und "sich trotzdem toll fühlen kann, ohne dass da jemand steht und klatscht". Was ja auch richtig sein mag.

Aber, och, wenn man alles gleichzeitig haben kann: Wozu sollte man sich dann mit einem von beiden zufrieden geben?

Und damit: zurück nach Köln.

"Ilka Bessin – Liebesbetrügern auf der Spur" und "Die Cindy aus Marzahn Show" sind bei RTL+ abrufbar; Ilka Bessin ist derzeit mit ihrem Bühnenprogramm "Blöde Fragen – Blöde Antworten" auf Tour.