Weil die schlauen Füchse von "Report Mainz" ganz genau wissen, dass man auch als etabliertes Investigativ-Format mit der Zeit swipen muss, haben sie ihrer Sendung im vergangenen Jahr nicht nur ein neues On-Air-Design gegönnt, aus dem das Logo mit dem markanten "R" seitdem in dreckigem Neongelb mutig herausleuchtet. Sondern vor wenigen Wochen auch angekündigt, sich systematisch für neue Themen und Herangehensweisen öffnen zu wollen, um die linear fernsehende Zielgruppe nicht allmählich beim Wegsterben zu begleiten.

Und zwar im neuen monothematischen Reportage-Format "Vollbild", das seit Juli zweiwöchentlich in der ARD Mediathek und bei YouTube aufschlägt, "aus der Werkstatt des Politmagazins 'Report Mainz'" in Kooperation mit der Berliner Produktionsfirma Labo M.

Letztere verantwortet sonst u.a. das erfolgreiche Funk-Format "Deutschland 3000" und versuchte sich im vergangenen Jahr bereits an der Modernisierung des Polittalks im deutschen Fernsehen: "Der Raum mit Eva Schulz" für die ARD Mediathek. Das hatte manche Schwäche, war aber durchaus gelungen – und wird in dieser Form wohl nicht fortgesetzt. Auf DWDL-Anfrage erklärt der SWR, gerade "eine konzeptionelle Weiterentwicklung" für die Mediathek zu erarbeiten, "deren Ergebnis noch nicht vorliegt". (Oder wie Labo M auf seiner Website ankündigt: eine "neue wöchentliche Show mit Eva Schulz (…) mit prominenten Gästen [und] unverwechselbarem Look & Feel".)

Mit überflüssiger Metaphorik aufgepumpt

"Vollbild" soll sich als Quasi-Neuerfindung des Politmagazins nun länger ausprobieren dürfen: Reportagen laufen laut SWR-Auskunft "bis auf Weiteres weiter im Zwei-Wochen-Rhythmus", was durchaus erfreulich ist.

Wobei die mit überflüssiger Metaphorik aufgepumpte Ankündigung des Senders ursprünglich Schlimmstes befürchten ließ: Um "die journalistische Marktlücke zwischen dem Jugendangebot 'funk' und dem klassischen Fernsehen" zu füllen, richte "Vollbild" sich an mittelalte Zuschauer:innen "in der Rushhour des Lebens", hieß es. "Report Mainz"-Moderator und Hobbynautiker Fritz Frey erklärte, "der investigative Dreimaster des SWR" bekomme "ein agiles Beiboot, das gezielt die 30- bis 40-Jährigen ansteuert", mit Themen, die "Menschen in diesem Alter auf den Nägeln brennen und einer Erzählweise auf Augenhöhe". (Was sich schmerzhaft anhört.)

Die knapp halbstündigen Reportagen wollten "[d]as Bild größer ziehen, den Ausschnitt verändern und erkennen, dass die Wirklichkeit anders ist, als zuvor gedacht". Wobei sich als Zwischenbilanz vielleicht sagen lässt: Nee, oft ist alles ziemlich genau so, wie das zuvor zu befürchten war.

Sehenswerte Reportagen in zeitgemäßer Optik

Aber in den meisten Fällen handelt es sich erfreulicherweise trotzdem um sehr sehenswert aufbereitete Reportagen, die großen Wert auf eine zeitgemäße Präsentation legen.

"Vollbild" erklärt anschaulich, wie deutsche Banken mit ihren Werbeversprechen für nachhaltige Investments an der Realität scheitern und dabei die Überforderung vieler Kund:innen ausnutzen. Zum Auftakt im Juli ging es darum, wie TikTok im Ukraine-Krieg als Propagandawerkzeug funktioniert und wie einfach man als Nutzer:in in einen Sog aus Kriegsvideos hineingezogen wird. Die Redaktion hat akribisch dazu recherchiert, wie Dating-Plattformen Nutzerinnen alleine lassen, die "Date Rapes" melden, sie hat Opfer befragt und – weil es bei BKA, Polizei und Familienministerium bislang kaum belastbare Daten zu diesem Phänomen gibt – über Gespräche mit Notrufstellen eigene Statistiken erstellt. In der aktuellen Folge testet ein Reporter, wie unseriöse Heilpraktiker:innen Menschen mit psychischen Problemen, die verzweifelt auf einen Platz in der Psychotherapie warten, das Geld aus der Tasche ziehen.

Neu erfinden kann "Vollbild" die gesellschaftskritische TV-Recherche damit zwar nicht, ihr aber immerhin ein inszenatorisches Update verpassen: Junge Reporter:innen sprechen ihr Publikum vor neutralem Hintergrund direkt an und leiten sie durch ihre Recherche und die währenddessen gewonnenen Erkenntnisse.

"Vollbild" mit Split Screen?

Weil es keine Moderationskärtchen zum Dranfesthalten gibt, wirken viele mit ihren ausladenden Handbewegungen ein bisschen so, als würden sie parallel dazu ein im Bild nicht sichtbares Mäuseorchester dirigieren. Zwischendrin sieht man sie im Hoodie durchs nächtliche Berlin fahren: "Ich mach mich jetzt auf den Weg, um herauszufinden, was an dem Versprechen dran ist." Oder für hübsche Schnittbilder an U-Bahn-Strecken herumlungern bzw. Tramstrecken ablaufen.

Die allermeiste Zeit verbringt man als Zuschauer:in aber damit, telefonierenden Präsentator:innen dabei zuzusehen, wie sie das Smartphone in urbaner Kulisse vor sich halten: auf dem Balkon, am Küchenfenster, auf der Terrasse in die dämmerige Stadt hinein.

Vollbild © Screenshot SWR Mit vorgehaltenem Smartphone wird in die dämmerige Stadt hineinrecherchiert: SWR-Format "Vollbild".

Es entbehrt auch nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet ein Format, das sich "Vollbild" nennt, bei Interviews mit Expert:innen oder Betroffenen permanent in den Split Screen schaltet, um Interviewer:in und Interviewte gleichzeitig zu zeigen.

Vollbild © Screenshot SWR Split Screen bei "Vollbild": Wer interviewt hier eigentlich gerade wen aus welcher Perspektive?

Gleichwohl wirken die Wohnzimmer-Recherchen dadurch aber genau so wie beabsichtigt: sehr viel lebensnaher als klassische Studio- und Redaktionsformate.

Rat- und machtloses Publikum

Interviews mit kritisierten Unternehmen oder zuständigen Ministerien kriegt "Vollbild" in den allermeisten Fällen zwar genauso selten wie das große SWR-Politschiff – dafür geben sich die Neuen große Mühe, dieses Fehlen hübsch zu illustrieren. Wenn Gesprächspartner:innen absagen, wird die ersatzweise schriftlich gelieferte Auskunft über einen leer bleibenden Stuhl vor die aufgebaute Greenscreen geblendet; offizielle Statements erscheinen in E-Mail-Optik im Bild; und wenn's etwas komplizierter wird, steht die Reporterin an einem großen Touchscreen im geheimnisvoll ausgeleuchteten Studio und sortiert die Fakten.

Am Ende heißt es jedes Mal zusammenfassend: "Unsere Recherchen haben gezeigt, dass…" Und wenn man was suchen müsste, um es an dem neuen Format zu kritisieren, dann vielleicht: dass trotz allem Bemühen auch der "Journalismus im Vollbild-Modus" seine Zuschauer:innen ähnlich rat- und machtlos zurücklässt wie die TV-Originale.

Wie kann man sich gegen Indoktrination auf TikTok wehren? Indem Eltern ihre Kinder vorher aufklären. Wie kommt man den ETF-Nachhaltigkeits-Tricksereien der Finanzinstitute auf die Schliche? Nur mit sehr, sehr, sehr viel Zeit für eigene Recherchen. Was tun gegen das Schulterzucken, mit dem Dating-Plattformen auf das Verhalten problematischer Nutzer reagieren? Aufpassen, acht geben, sich im Zweifel Hilfe suchen. Na, herzlichen Dank.

So viele Schaufenster wie möglich

Wahrscheinlich gehört es zur Kernproblematik gesellschaftskritischer Recherchen, dass sich die identifizierten Missstände immer nur freilegen, aber niemals beheben lassen. Daran kann auch ein moderneres Erscheinungsbild wenig ändern.

Vollbild © Screenshot SWR Urbanes Ambiente statt Betonkulisse mit Fuchs: "Vollbild"-Reporter:innen recherchieren draußen.

Es veranschaulicht aber ganz gut, wie wenig zeitgemäß aufs Lineare fokussierte Politmagazine wie "Report Mainz" für Zuschauerinnen in der Tempo-30-Zone des Lebens dagegen wirken, zumal mit dem oft unschaffbaren Anspruch, in ihrer Sendezeit gleich mehreren komplexen Themen gerecht werden zu müssen. Um im Zweifel dann doch bloß wieder nachzustellen, wie eine Rentnerin ans Telefon eilt, um dort mit "dubiosen Versprechen" einen neuen Stromvertrag aufgeschwatzt zu kriegen, den sie gar nicht will, die Verbraucherzentrale ihr Sätzchen dazu aufsagen und Betroffene fordern zu lassen: Es müsste mehr getan werden!

Ja. Das gilt aber auch für Politmagazine im Fernsehen, die trotz Neonlogo immer noch genau so funktionieren wie vor vierzig Jahren. Und dringend Nachhilfe im Inszenieren spannender Interviewsituationen gebrauchen könnten.

Report Mainz © Screenshot Das Erste Dann doch lieber mit U-Bahn und Split Screen: Interviewsituation bei "Report Mainz".

Immerhin gibt man sich beim SWR große Mühe, sein ergänzendes Investigativ-Format fürs Mediatheken-Publikum in so viele Schaufenster wie möglich zu stellen: Auf Facebook labelt "Marktcheck" die "Vollbild"-ETF-Recherche nochmal für sich um und schickt Nutzer:innen zum Originalvideo weiter.

Wieviel "Vollbild" steckt in "Report"?

Und die Date-Rape-Recherche lief kürzlich in einer Sechs-Minuten-Variante im regulären "Report Mainz" im echten Ersten (wofür der zitierte Professor aus dem Original offensichtlich noch mal besucht werden musste, weil im Beitrag kein Skype-Schaltgespräch gezeigt werden sollte), wo sie in ihrem Destillat – sagen wir: unnötig gehetzt wirkte.

Eine Übernahmesystematik scheint es bislang aber nicht zu geben. Ob sich eine "Vollbild"-Recherche auch für einen "Report"-Beitrag eigne, hänge "vor allem vom Veröffentlichungsdatum und der Relevanz des Themas für die jeweilige Zielgruppe ab", heißt es beim SWR dazu lapidar.

Gleichzeitig frag ich mich, warum der aktuelle "Report Mainz"-Film zur Aushebelung der Mietpreisbremse, für die Wohnungsanbieter in Hamburg und Berlin offensichtlich systematisch mit Strohmännern zusammenarbeiten, um über diese Untermietverträge abzuschließen, nicht als "Vollbild"-Recherche umgesetzt wurde – ließen sich damit doch exakt die "blinde[n] Flecken in Themenbereichen ausleuchten, die der Zielgruppe wichtig sind". (Zumal der Reporter zur Recherche ohnehin schon auf seinem Tablet tippend in Berliner Großstadtkulisse sitzt.)

Aber das behalten die schlauen Füchse von Mainz womöglich einfach lieber für sich selbst.

Und damit: zurück nach Köln.

Neue "Vollbild"-Reportagen erscheinen alle zwei Wochen dienstags auf YouTube und in der ARD Mediathek.