Wenn das Gestern dem Morgen im Hier und Heute begegnen soll, ist Hamburgs Speicherstadt kein schlechter Ort. Die gute alte, immer noch analoge ARD stellte ihr Digitalstrategie gestern Abend daher dort vor, wo sich historische Lagerhallen unterm futuristischen Coworkingspace „Factory Hammerbrooklyn“ wegducken. „Coole Location“, begrüßt Hendrike Brenninkmeyer ihr Publikum aus Presse, Wissenschaft, Unternehmen, selbst einer Vertreterin vom ProSieben-Portal Joyn+ und hält ein Plakat hoch, mit dem das Erste für seine Mediatheken wirbt: „Fernsehen guck ich nicht.“

Das kam Anfang des Jahres nicht überall so gut an im föderalen Senderverbund, meint die Moderatorin und umschreibt damit ein Branchentreffen unterm popmodernen Titel „SWR Insight“, durch das sie zwei hochkomplexe Stunden führt. Im Jahr 2030 dürfte Prognosen zufolge zwar erstmals weniger linear als digitale geschaut werden. Bis dahin aber bleibt ersteres noch öffentlich-rechtliches Kerngebiet, das mit der flatterhaften Mediathek um Aufmerksamkeit kämpft. Kai Gniffke, als SWR-Intendant für letztere verantwortlich, erklärt sogleich, wohin die Reise der neun beitragsfinanzierten Funkhäuser geht.

 

Wir wollen in fünf Jahren der erfolgreichste Streaminganbieter in Deutschland sein. SWR-Intendant Kai Gniffke über die ARD-Mediathek

 

„Wir wollen in fünf Jahren der erfolgreichste Streaminganbieter in Deutschland sein“, sagt der frühere „Tagesschau“-Chef und fügt ein kleines, aber feines Detail hinzu: „Nicht nur aus Deutschland, das sind wir schon.“ Nein – reichweitenstärker als Netflix, Disney, Amazon Prime, von der deutschen Konkurrenz mal ganz zu schweigen. Obwohl monatlich 16 Millionen User schon jetzt angeblich viermal mehr Zeit auf der ARD-Mediathek verbringen als bei RTL+ und der Zuwachs 2021 pandemiebedingt bei 80 Prozent lag, ist das ein ehrgeiziges Ziel. Aber nur dann, sendet Gniffke per Zoom in seine frühere Wahlheimat, bleibe man wichtig für die Demokratie. „Das dürfen wir nicht versemmeln.“

Und um klarzumachen, wie sie es nicht versemmeln, hat er drei seiner entscheidenden Fachleute nach Hamburg geschickt. Mit Blick aufs „Spiegel“-Gebäude oder die Landeszentrale des ZDF gegenüber, erklären Bertram Gugel, Maxi Droste und Jonas Schlatterbeck, als Heads of Content zuständig für Technik, Oberfläche, Inhalt digitaler ARD-Programme, wie Gebührenzahlende 2027 fernsehen. Und das ist zwar nicht grundlegend anders als heute, aber irgendwie unvergleichlich.

Die Mediathek, lautet der Tenor, soll nämlich von einer Abspielstation zum crossmedialen Portal werden. Und dafür zählt Jonas Schlotterbeck – Hand in der Hose, Headset am Ohr – in freier Rede fünf Leitsätze, ja Parolen auf: Radikale Relevanz, tiefe Persönlichkeiten, Community-Liebe, Bindung schaffen und wahrhaftige Nähe. Mit Formaten wie „Recycling-Lüge“ oder „All You Need“, Gesichtern wie Carolin Kebekus oder Ingo Zamperoni, Seriensuchtstoff wie „Tatort“ oder „Rote Rosen“ und emotionalem Bonding via Erlebniswelten oder Alltagsbegleitungen soll dramaturgische Verbundenheit von Sender und Empfänger, ARD und Publikum entstehen, die über Angebot und Nachfrage hinausreicht.

Doch weil mittlerweile selbst in der Hauptzielgruppe über 60 die Tagesration klassisch verabreichten Fernsehens sinkt, müssen dafür neue Kohorten her. Jüngere vor allem. Weshalb hier Maxi Droste und Bertram Gugel ins Spiel kommen. Erstere wirft virtuos mit Marketingbegriffen wie Sinus-Milieu, Drittplattform, Community of Interest oder nutzungsorientierte Algorithmen um sich, meint damit aber etwas sehr Simples: die Gruppe der 19- bis 49-Jährigen, internetaffin, schwer zu erreichen. „Da wollen wir ran!“ Bei denen geht es zwar wie immer um Instagram und Twitter, Identität und Leidenschaft. Aber damit die jungen Leute von Youtube zur ARD ziehen, geht es um passgenauen Content. Oder wie sie es sprachlich im Stil der HafenCity ausdrückt: „It’s all about Inhalt.“

Weil er sichtbar sein muss, hält Bertram Gugel einen Vortrag darüber, wie der Online-Auftritt aufgebaut sein muss, damit die Generation Y bis Z auch dorthin findet. Dafür soll innerhalb der nächsten drei Monate nicht nur das Einloggen personalisiert werden. Sein wachsendes Team will der „funktionalen Binnenstruktur des nutzer:innenzentrierten Produkts“ Mediathek für 18 Partner mit mehr als 180.000 Inhalten, „neuen Rhythmus“ geben. Verfeinerte Suchfunktionen, organischerer Zugang, leichteres Navigieren, automatisierte Empfehlungen, genuines Angebot – alles wird professionalisiert. „So schaffen wir“, glaubt Gugel, „Grundlagen für Wachstum“.

Viel "online first"

Und dafür wird nicht nur das Exklusivitätsprinzip dahingehend umgedreht, dass 80 bis 90 Prozent der Inhalte „online first“ zu sehen sind, während nur noch Events wie „Tatort“ linear bevorzugt werden. Dafür sucht die Mediathek auch händeringend qualifizierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus allen Produktentwicklungssparten von Grafik Design bis Social Media, wie Inhaltskoordinator Schlatterbeck ergänzt und auf eine entstehende Jobbörse der ARD verweist – die den Zugang ihrer Mediathek zwar mit der des ZDF koordinieren, aber eigenständig bleiben wird.

Dass diese Eigenständigkeit durchs missbräuchliche Machtsystem beim RBB gerade massiv gefährdet wurde, kontert Kai Gniffke derweil mit einem Witz darüber, dass er nur dabei statt mittendrin ist: „Mein Learjet, die SWR 1, ist kaputt.“ Schlechter Scherz, räumt der zugeschaltete Chef ein, fügt aber ernsthaft hinzu, wie die ARD aus dem Gerede kommt: „Wir müssen unsere Arbeit machen und allen klar, dass Deutschlands das beste Fernsehsystem der Welt hat“. Seine Kinder hätten schließlich keinen Fernseher mehr. „Den vermissen sie auch nicht und sind trotzdem besser informiert als ich.“ Deshalb müsse man das Transformationstempo erhöhen. Der Abend im Hamburger Hafen zeigt: Langsam gibt die ARD Gas.