Recht und Gerechtigkeit, das wussten viele von uns schon, bevor fast jedes juristische Kuriositätenkabinett Ferdinand von Schirachs verfilmt wurde, mögen womöglich wesensverwandt sein. Deckungsgleich sind sie nur selten. Gesetzestexte machen schließlich keine Fehler, wir Menschen dagegen ständig. Selbst Richterinnen wie jene, die ab Dienstag bei RTL+ Seymas erstes Strafverfahren leitet.

Kaum nämlich, dass die Nachwuchsjuristin in der Kanzlei des Alten (Josef Bierbichler) angefangen hatte, droht sie das Verfahren gegen den Kopf eines Mädchenhändlerringes wegen Körperverletzung der Zwangsprostituierten Vica (Cosmina Stratan) zu verlieren – da unterläuft der Vorsitzenden ein Formfehler. Anträge mangelhaft, Beweismaterial unverwertbar, Zeugen vermisst – so ungefähr scheitern die Urteile ständig an der Strafprozessordnung, seit mit „Verbrechen“ und „Schuld“ vor acht, neun Jahren die Reihe erfolgreicher Schirach-Adaptionen fürs Fernsehen begann.

Auch in der Verarbeitung vom Bestseller „Strafe“ hat das Recht also nur oberflächlich mit Gerechtigkeit zu tun. Dass sich der Sechsteiler dennoch vom Dutzend weiterer Verfilmungen abhebt, liegt demnach nicht am Inhalt. Es liegt auch nicht an der Moral. Selbst die Rapperin Ebow als Anwältin mit türkischem Gastarbeiter im Stammbaum ist kein Alleinstellungsmerkmal im Kanon des literarischen Strafverteidigers mit NS-Größe im Stammbaum. Das gesamte Format ist eines.

Produzent Oliver Berbens Moovie GmbH hat im RTL-Auftrag sechs verschiedene Regisseurinnen und Regisseure engagiert, die sehr diverse Schlaglichter auf Schirachs sachliche Idee von Real Crime werfen. Den „Subotnik“ genannten Fall der organisierten Verschleppung rumänischer Frauen nach Deutschland zum Beispiel inszeniert Helene Hegemann, eine Quereinsteigerin mit Theatersippe im Stammbaum, die seit ihrem Debütroman „Axolotl Roadkill“ auf allen Berliner Bühnen für Furore sorgt.

Hier nun arbeitet sie 14 Jahre nach ihrem Kinodebüt („Torpedo“) als Teenagerin erstmals für den Bildschirm. Und der offizielle Reihenauftakt dürfte zwar kein so heiß diskutiertes TV-Ereignis wie Schirachs interaktive Blockbuster von „Terror“ bis „Gott“ werden. Dafür ist ihr Film ein fünfzigminütiges Exempel fesselnder Ereignislosigkeit, das perfekt zum Portfolio. In „Strafe“ finden sich zwar unterschiedliche Filmemacher wie David Wnendt oder Mia Spengler, die entsprechend divers auf Schuld und Sühne, Opfer und Täter, Aktion und Reaktion blicken. Die Aura aller sechs Kunstwerke jedoch ist verblüffend ähnlich.

Fast 20 Jahre nach Hitlers „Untergang“ hat Oliver Hirschbiegel aus Schirachs Kurzgeschichtenfundus „Der Taucher“ in Bayerns Bibelgürtel verfilmt, wo die tiefgläubige Claudia (Katharina Hauter) für den Mord am erdrosselten Ehemann (Jan Krauter) angeklagt wird. In Hüseyin Tabaks Strafkapitel „Der Dorn“ treibt eine Marmorstatue Museumswärter Feldmayer (Hans Löw) parallel mit schmerzhaften Folgen für die Besucher in den Wahnsinn. Fatale Folgen für ein Opfer häuslicher Gewalt hat in Mia Spenglers Beitrag dagegen „Die Schöffin“ Katharina (Elisabeth Hofmann), deren Mitgefühl den Prozess behindert.

Patrick Vollraths „Das Seehaus“ befasst sich zugleich mit Olli Dittrich als eigenbrötlerischer Kauz, der sich mit seiner Nachbarschaft anlegt, bis es buchstäblich knallt. Das Finale dieser Anthology-Serie bildet sodann „Ein hellblauer Tag“ von David Wnendt, der mit „Kriegerin“ bekannt wurde, mit „Er ist wieder da“ erfolgreich, mit „Feuchtgebiete“ sogar populär. Jule Böwe spielt darin eine Babymörderin, die kurz nach der Haftentlassung ihren Mann vom Hochhausbalkon stößt – was gespoilert werden darf, weil Wnendt die Geschichte von hinten nach vorn erzählt.

Jeder nachgestellte Tatsachenbericht stellt eigene Fragen, wen unser Rechts- und Gerechtigkeitsverständnis eigentlich härter straft: Objekte oder Subjekte krimineller Taten. Jede Realfiktion sucht auf unterschiedliche Art Antworten aus dem Innersten aller Beteiligten. Jede Erzählung geht dabei relativ vorurteilsfrei auf die Suche nach Verantwortung für unser Tun und Lassen. Jede dieser Geschichten wählt dafür allerdings einen vergleichbaren Ansatz: den der unbedingten Ruhe.

Ganz gleich, ob wir Hegemanns Hauptfigur beobachten, wie sie nach Regeln ihres misogyn-rassistischen Umfelds gegen jede Überzeugung zum Vorteil eines Gewalttäters spielt, ob wir Vollraths Wahrheitskomiker Dittrich beim freudlosen Feldzug gegen seine Dämonen der Jugend zusehen, ob wir Spenglers Schöffin durch übergriffige Männersysteme dreier Jahrzehnte begleiten, ob wir für Wnendts Mörderin aus gleichem Grund Sympathie aufbringen, ob wir die Zwangsjacken von Hirschbiegels Charakteren gegeneinander aufrechnen oder ob Tabaks Dorn im Fuß einer antiken Skulptur zu metaphorisch ist: zusammen sind die sechs Filme ein Statement gegen die hektische Effekthascherei der Streamingepoche.

Dass man sie trotzdem hintereinander wegsuchten kann, spricht da Bände übers Fernsehen und sein Publikum, die sich zu immer mehr Eindrücken pro Szene hochpeitschen und dabei das Wesentliche der Kommunikation verdrängen: Mut zur Lücke. Erst in der Pause gewinnt das Gesagte, Geflüsterte, Gebrüllte, Geschepperte ja Raum zur freien Entfaltung. Und „Strafe“ füllt ihn noch nicht mal richtig mit Musik. Das ist bisweilen schier unerträglich langsam und lautlos. Am Ende aber sorgt es für rund 300 Minuten hochkonzentrierter Menschenbeobachtung im Dienst der Gerechtigkeit – auch wenn sie mit Recht nur wenig zu tun hat.

"Strafe" ist ab dem 28. Juni bei RTL+ abrufbar