Eigentlich hatte ich mir den Anfangs-Gag für diese Kolumne schon so schön zurecht gelegt, er ging so:

Es kann sich nur noch um wenige Stunden handeln, bis RTL die Neuauflage von "Alles Nichts Oder?!" mit Jan Köppen und Cindy aus Marzahn im Hai-, Wolkenkratzer oder Hummer-Kostüm verkündet, um fortan vorm Bananenvorhang wieder Kindergeburtstag für Erwachsene zu veranstalten, Torten fliegen zu lassen und "Schwampf" zu spielen (oder um's mit der seligen Joy Fleming zu sagen: "Krangehaus!").

Aber das ist jetzt, nachdem Ilka Bessin tatsächlich die Rückkehr ihrer längst abgelegten Rolle verkündet hat, wenn auch (vorerst) für die "Cindy aus Marzahn Show", natürlich ein bisschen billig.

Abrechnung mit dem "Boomer TV"

Aber auch nicht viel billiger als die vor ein paar Tagen erschienene Abrechnung des "Spiegel" (Abo-Text) mit dem "Boomer TV", das RTL, Sat.1 & Co. gerade veranstalten, indem sie längst eingemottete Erfolgsshows von früher zurück ins Programm holen. Und nach Ansicht der Erstausgabe des auf der Formatstreckbank in Primetime-Länge gezurrten "Der Preis ist heiß" gäbe es wahrlich genug zu nörgeln. Weil's, bei aller kuscheligen Nostalgie, schon superkurios ist, im Jahr 2022 wieder überzuckert wirkenden Kandidatinnen und Kandidaten dabei zuzusehen, wie sie erst Preise für alltägliche Produkte aus dem Supermarkt erraten, um nachher Krempel zu gewinnen, den sie wirklich nicht brauchen. (Automatischer Schuherfrischer?!?) Selten hat RTL in den vergangenen Jahren so sehr aus der Zeit gefallen gewirkt wie mit diesem Rückschritt in finsterste Konsumgesellschaftszeiten, als sich mit dem Gewinn von haufenweise Folgekosten für Geldbeutel und Klima produzierenden Verbrennungsmotorhüllen ganze Generationen vergnügungsbereiter TV-Showbesucherinnen- und besucher glücklich machen ließen.

Aber dann ist es doch bloß so ein herumeiernd spiegelnder Schlechtelaunetext geworden: über die (angeblich) "diffuse Gegenwartsmüdigkeit" der Sender, die "Retromanie" des "Restaurations-TV", die "Weltflucht in Dauerschleife" und eine "Reihe der Entmumifizierungen" aus "knallhartem demographischen Kalkül", um dem "Publikum (…) nichts mehr zumuten" zu müssen. Was einerseits natürlich lustig ist, wenn die Co-Autorin des Texts vorher selbst schon mit ihrem Schmachtbuch über eine 1996 zum ersten Mal aufgelöste (und später entmumifizierte) Boyband auf Lesetour gegangen ist. Und andererseits total doof, weil der "Spiegel" so tut, als handele es sich beim aktuellen Retro-Trend im deutschen Fernsehen um etwas noch nie Dagewesenes, mit dem die Programmverantwortlichen endgültig ihre "Bankrotterklärung" einreichen.

Regelmäßig anrollende Retro-Welle

Dabei hätte es schon geholfen, kurz ins eigene Heftarchiv zu schauen, um zu entdecken, dass das Quatsch ist. Weil die Aufführung bekannter Showklassiker ebenso so als wiederkehrendes Element zum Fernsehen gehört wie die Kommentierung desselben in Deutschlands führendem Nachrichtenmagazin.

Bereits 2002 lästerte man in Hamburg über die "TV-Wiederaufbereitungsanlage", als nämlich das ZDF die vierte Neuauflage seiner Erfolgsspielshow "Der Große Preis" zelebrierte, die nach Wim Thoelke, Hans-Joachim Kulenkampff und Carolin Reiber diesmal vom aufstrebenden Moderationstalent Marco Schreyl moderiert wurde, übrigens in direkter Konkurrenz zum von Kabel eins zurück geholten Robert-Lembke-Rateklassiker "Was bin ich?" im direkten Gegenprogramm, zu dem es vorher im "Spiegel" bereits geheißen hatte: "Schweinderl gehören im Fernsehen offensichtlich zu den unausrottbaren Tierarten."

Ja, genau wie regelmäßig wieder anrollende Retro-Wellen.

Da ist's natürlich Unfug, dem Medium zu unterstellen, 2010 sei das Jahr gewesen, "in dem die Fernsehwelt noch an die Zukunft glaubte": kurz nachdem das ZDF mit der Neuauflage des 90er-Jahre-RTL-Erfolgs "Traumhochzeit" klang- und sanglos untergegangen war – und zwei Jahre, bevor es RTL mit seiner eigenen Variante nochmal genauso ging.

Selbstwiederholung als fester Programmbestandteil

Die permanente Selbstwiederholung ist seit jeher fester Programmbestandteil: So lief die Abenteuer-Spielshow "Fort Boyard"ist zwischen 1990 und 2018 bei jedem großen Sender der ProSiebenSat.1-Gruppe mindestens ein-, bei Sat.1 zweimal; Kabel eins holte 2000 nicht nur "Was bin ich?" zurück, sondern vor- bzw. nachher auch schon "Glücksrad", "Geh aufs Ganze" und "Dingsda" (bevor sich das Erste vor drei Jahren an letzterem nochmal versuchte). Jede neue Free-TV-Sendergeneration hat eine zeitlang mit bekannten Showerfolgen Publikum anzulocken versucht, und in den allermeisten Fällen ist das Retrofieber nach einer gewissen Zeit von alleine wieder abgeklungen – so wie bei Nitro, das erst der Musikkultshow "Formel 1" 2013 ein drittes TV-Leben schenkte, und 2016 mit dem Versuch scheiterte, die 90er-Jahre-Softerotik von "Tutti frutti" in die Gegenwart zu retten.

Neu ist allenfalls die Vehemenz, mit der bekannte Formate derzeit ins Programm gehievt werden – und wie die Sender sie zu Primetime-Events aufzublasen versuchen. Auch diesmal zeichnet sich aber ab, dass das ebenso große Erfolge wie Abstürze produzieren wird.

"7 Tage, 7 Köpfe" ist bei RTL erst munter durchs Programm gewandert und dann gleich wieder eingemottet; und so sehr das auch seinen Charme haben mag, Harry Wijnvoord nach 25 Jahren wieder bei "Der Preis ist heiß" am Rad drehen zu lassen und Ulla Kock am Brink demnächst in der Neuauflage der "100.000 Mark Show" zu sehen (als "100.000 Euro Show" bei RTL zuletzt im Jahr 2008 gescheitert): auch das Publikum weiß, dass das Fernsehen der Vergangenheit nicht auf Dauer das der Gegenwart sein kann. All das ist noch lange kein Grund, dem Medium den Untergang zu prophezeien.

Ausruhen auf dem Formatkatalog

Das Ärgerliche daran ist – und da hat der "Spiegel" recht – vielmehr die gleichzeitige Ignoranz der Sender gegenüber dem Jetzt. In dem sich viele Programmverantwortliche daran gewöhnt haben, internationale TV-Erfolge aus dem Katalog aussuchen zu können, um landesspezifische Adaptionen davon auf den Schirm zu bringen – anstatt Produktionsfirmen explizit dazu zu ermutigen, neue Ideen zu entwickeln.

Würde man einem wie Jörg Pilawa, wenn der zu Sat.1 zurückkehrt und ankündigt, noch mal Bock auf Neues zu haben, nicht was Eigenes bauen, anstatt ihn in der erstbesten Quiz-Adaption vom De-Mol'schen-Formatfließband untergehen zu lassen? Und ist bei RTL tatsächlich schon das Maximum der Kreativität erreicht, wenn Günther Jauch anstatt bei "5 gegen Jauch" jetzt regelmäßig gegen ZDF-Stars antritt, die sich vorübergehend im Titel führen lassen ("Jauch gegen Sigl", "Jauch gegen Lichter")?

Anstatt gebannt wie der alte Fernsehhase auf die Schlange an reproduzierbaren Formaterfolgen zu starren, täte es allen Sendern (den öffentlich-rechtlichen nicht minder) gut, sich neben ihrer Retro-Begeisterung auch auf die Entwicklung potenzieller neuer Hits zu konzentrieren, und keinesfalls auf "Der Preis ist heiß"-Urgestein Harry Wijnvoord zu hören, wenn der glaubt: "Das Fernsehen muss nicht neu erfunden werden."

Mehr Kultformate für 2045!

Ganz im Gegenteil: Kaum ein anderes Medium lebt so sehr davon, sich schrittweise immer wieder neu zu erfinden, um sein Publikum zeitgemäß zu unterhalten – bloß die Bedürfnisse der Zielgruppen (und die Mittel, um zu begeistern) werden immer ähnlich sein.

Weil es sonst im Jahr 2045 nämlich keine Kultformate aus den 20er Jahren mehr geben wird, die sich neuauflegen ließen. Zwar dürfte als sicher gelten, dass Tim Mälzer mit seinen dann 74 Jahren auf jeden Fall nochmal Bock hat, fluchend um den Globus geschickt zu werden, um seinen Replikator fern der Heimat so exakt zu programmieren, dass das darin replizierte Gericht möglichst eng dem von seinen Gegnern ausgesuchten kulinarischen Original entspricht. Und klar kann ich mir vorstellen, wie sich Joko und Klaas am Krückstock durchs Studio duellieren, um ihre Titelsammlung als "Weltmeister" bei ProSiebzig zu komplettieren. Aber anschließend sieht's auch schon ziemlich mau aus, falls die TV-Chefs der Zukunft darauf hoffen sollten, aus einem großen Retro-Fundus zu schöpfen. Deshalb, liebe Kreative: Hängt den Plinko-Stick an den Nagel – und denkt öfter schon heute ans Fernsehen von Überübermorgen.

Und damit: zurück nach Köln.