Es ist noch nicht so lange her, dass ein eher schlankes Film- und Serienportfolio die Frage aufwarf, wie ernst Apple TV+ wohl als eigenständiges Streaming-Angebot gemeint war. Klar, es gab "The Morning Show" mit der Superstar-Besetzung Jennifer Aniston und Reese Witherspoon, und es sickerte durch, dass der kalifornische Computer- und Handyhersteller ohne Wimpernzucken 20 Millionen Dollar pro Serienfolge ausgab. Doch ansonsten schien es eher so, als würden die von Sony Pictures abgeworbenen Streaming-Chefs Jamie Erlicht und Zack Van Amburg ambitioniert herumprobieren, ohne mit den Resultaten im Zeitgeist zu verfangen.

Fast forward ins Jahr 2021/22 – und plötzlich steht Apple als Rekordsieger bei den Emmys und den Oscars da. Noch nie zuvor war es einer Streaming-Plattform gelungen, in ihrem zweiten Jahr bereits eine Emmy-Programmkategorie zu gewinnen – in diesem Fall "Ted Lasso" als beste Comedy-Serie. Und noch nie zuvor war der Oscar für den besten Film an einen Streamer gegangen, obwohl vor allem Netflix es jahrelang mit viel Ehrgeiz und noch mehr Geld versucht hatte. "Coda", das anrührende Drama um die junge Sängerin Ruby, die als einzige hörende Person in einer gehörlosen Familie aufwächst, eignet sich geradezu als Case Study für den Aufstieg von Apple Studios sowie für dessen Umgang mit herkömmlichen Hollywood-Gepflogenheiten.

Ursprünglich war der spätere Oscar-Gewinner 2017 als mittelgroßes Studioprojekt bei Lionsgate entwickelt worden, dort aber nicht vorangekommen. Der scheidende Co-Chairman Patrick Wachsberger nahm "Coda" mit, stemmte die Finanzierung mit den französischen Firmen Pathé und Vendôme Pictures, so dass der Film im Sommer 2019 gedreht werden konnte. Apple stach beim Sundance-Filmfestival Anfang 2021 mit einem 25-Millionen-Dollar-Gebot den Mitbewerber Amazon aus. Dafür wollten Erlicht und Van Amburg die weltweiten Rechte, obwohl Pathé den Film bereits in etliche Länder verkauft hatte. Das klassische Pre-Sale-Modell, bei dem die Vertriebsrechte Land für Land verkauft werden, um die Finanzierung zu sichern, war für Jahrzehnte die wesentliche Säule des Indie-Filmgeschäfts – ehe die Streamer aufmarschierten und die vorverkauften Territorien in diesem Stadium oftmals mit üppigen "kill fees" ausbezahlten.

Im Fall von "Coda" erfuhren die lokalen Filmverleiher wie etwa Tobis in Deutschland aus der Fachpresse, dass Apple einen Deal gemacht hatte, der mit ihren Rechten kollidierte. Weltweit gingen Verleiher auf die Barrikaden, doch Team Apple – unterstützt von der Hollywood-Agentur CAA – übte nach Berichten Beteiligter so viel Druck mit hohen Schecks und harschen Worten aus, dass es seinen Buyout in nicht wenigen Ländern tatsächlich bekam. Auszuzahlen war immerhin die Aussicht auf einen Oscar-Sieg, der jedem Verleih enorme Wertzuwächse im Kino- und Home-Entertainment-Geschäft beschert hätte. Der Wert für Apple: "Coda" war ein gefundenes Fressen, das perfekt zu CEO Tim Cooks Vision von TV+ als Heimat erbaulicher Geschichten passte, mit absolut markengerechter Botschaft, die dem Drei-Billionen-Dollar-Konzern den sympathischen Anstrich eines emotionalen Indies verlieh. Was immer er dafür zahlte, war im internen Größenvergleich verschwindend geringes Marketing-Geld.

Severance © Apple TV+ Momentum für Apple: "Severance" zählt zu den besten Serien 2022
So geht die Rechnung auch für TV+ als Ganzes. Ähnlich wie Amazon ist Apple ein Tech-Unternehmen, das sich Streaming bislang als Beiprodukt ohne signifikante Erlösrelevanz leistet. Die Bindung an sämtliche Hardware-Produkte, so die Logik, wird durch eigene Entertainment-Inhalte noch intensiviert. Weil das so ist, kommt Apple damit durch, noch viel weniger transparent zu sein als andere Streaming-Angebote. Es gibt nur grobe Branchenschätzungen, nach denen rund 40 Millionen Apple-Accounts bei TV+ angemeldet sind und davon rund 20 Millionen regelmäßig fürs Abo zahlen. Die Mischung aus weltweit begehrter Marke, Oscar- und Emmy-Rückenwind sowie der Bereitschaft zu aufwendigen kreativen Wagnissen, wie man sie etwa von HBO oder aus den Frühphasen anderer Streamer kennt, gibt Apple TV+ derzeit ein unverkennbares Momentum. Und das mit erhöhter Schlagzahl: Zwischen Anfang Februar und heute starteten mit "Suspicion", "Severance", "The Last Days of Ptolemy Grey", "WeCrashed", "Pachinko", "Slow Horses", "Roar" und "Shining Girls" allein acht neue Drama-Serien, die überwiegend gute Kritiken erhielten und im popkulturellen Diskurs ankamen.

Der Ehrgeiz scheint geweckt, ebenso wie die wirtschaftliche Absicht, künftig noch mehr aus dem Geschäftsfeld "Services" herauszuholen, das bei Apple neben TV+ auch den App Store, iCloud, Apple Music, Apple News, Apple Arcade oder die Werbevermarktung umfasst. Im letzten Quartal vermeldete diese Sparte ein 17-prozentiges Umsatzwachstum auf 19,8 Milliarden Dollar (Apple gesamt: 97,2 Milliarden) sowie 825 Millionen zahlende Abonnenten über alle angebotenen Services hinweg. Als eigenständiges Unternehmen wäre Apple Services damit fast so groß wie die gesamte Walt Disney Company. Wie "Business Insider" dieser Tage berichtete, nimmt Eddy Cue, der Chef der Sparte, derzeit Umstruktierungen vor, die insbesondere das Streaming- und das Werbegeschäft stärken sollen.

Apple vermarktet neben Suchtreffern im App Store bislang seine News- und Aktien-Apps. Unlängst kamen Video-Ads in den Freitagsspielen der Major League Baseball (MLB) hinzu, mit denen TV+ in den USA ins Live-Sportgeschäft eingestiegen ist. Es wird allgemein erwartet, dass Gebote für weitere Übertragungsrechte folgen, sobald diese zur Ausschreibung stehen, insbesondere fürs attraktive "Sunday Ticket" der NFL. Dieses liegt momentan noch bei DirecTV, läuft aber mit der kommenden Saison aus. Experten rechnen mit Lizenzkosten um 2,5 Milliarden Dollar pro Jahr. Da Amazon und Disney bereits exklusive NFL-Pakete haben, bliebe Apple als einer von wenigen Bietern mit so tiefen Taschen. Für TV+ wäre in diesem Fall ein deutliches Wachstum von Abozahlen und Werbeerlösen realistisch, aber auch die Vermarktung eines zusätzlichen Premium-Sportpakets.

Ehe Apple auch außerhalb Amerikas ein ernsthafter Sportrechte-Käufer wird, dürfte es noch eine ganze Weile dauern. Generell ist der bisherige Output an Eigenproduktionen – dem vergleichsweise zarten Alter der Plattform entsprechend – noch überwiegend US-zentriert. In Europa sondiert die frühere Channel-4-Chefin Jay Hunt mit kleinem Team von London aus die lokalen Märkte; seit Anfang dieses Jahres ist in München die langjährige Rat-Pack-Produzentin Franziska An Der Gassen als Creative Executive für Deutschland an Bord. Ihr Entree wird in der Branche als sympathisch wahrgenommen: Mehrere Produzenten berichten, sie habe von sich aus um einen Termin gebeten, um sich und den künftigen Bedarf von Apple Studios vorzustellen.

US-Studios im Umbruch – bisher erschienen