Es ist kein Geheimnis, dass David Bowies wohl größter Fan auf Erden aus Hamburg-Lokstedt kommt und auf den Namen Dr. Helge Fuhst hört. Von der David-Bowie-Kaffeetasse über das David-Bowie-Shirt bis zu den David-Bowie-Socken reicht die Hingabe des Vize-Chefs der „Tagesschau“. David Bowie for life und alle Lebenslagen! Wer, wenn nicht er, hätte also den passenden David-Bowie-Song parat, um die aktuelle Verfasstheit zu besingen in einer Situation, wo die Welt am Rande eines großen Krieges steht? Ist es vielleicht jenes Lied mit der markanten Basslinie, dessen Text vom permanenten Druck handelt, der Leben zerstört?

„Under Pressure“ – gilt das eigentlich auch für Helge Fuhst selbst in diesen auch journalistisch so fordernden Tagen?

Es ist Tag acht der russischen Ukraine-Invasion, als der David-Bowie-Experte fachsimpelt, dass „Under Pressure“ für ihn „schon immer der intensivste Song“ gewesen sei und „sicher sehr gut zur jetzigen Situation“ passe. Natürlich stünden auch sie hier im Nachrichtenhaus von „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ unter Druck, „aber der Blick für uns alle geht in die Ukraine zu den Menschen, die gerade um ihr Leben fürchten müssen“.

Wenn er an sie denke und vor allem an den ukrainischen Präsidenten Selensky, „den wir alle jeden Tag staunend beobachten, wie er sich verhält und vorangeht“, fällt Helge Fuhst sofort ein anderer Hit ein, „Heroes“ von seinem Hero Bowie: „Wir sehen gerade sehr viel Mut. Auch in Russland bei Journalisten, die sich bis zuletzt trauten, frei zu berichten, und bei Menschen, die ihren Protest auf die Straße tragen.“

Helge Fuhst © NDR / Nadine Rupp
Trotz all dieser mutmachenden Lichtblicke: Einen News-Junkie wie Helge Fuhst muss die Aktualität qua Beruf noch eine Umdrehung mehr umtreiben als das TV-Publikum, das sich zuweilen überfordert fühlt. 24/7 ist in Breaking-News-Zeiten immer noch steigerungsfähig (was sich derzeit an den immer tieferen Augenringen von Reportern und Sondersendungsmoderatorinnen ablesen lässt). Geplant werde von Tag zu Tag, sagt Fuhst. „Als der Krieg anfing, wussten wir nicht, wie viele Tage oder Wochen die fast monothematische Berichterstattung andauern würde.“ Genauso sei es in der Pandemie oder bei der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan gewesen. Trotzdem sähen sie sich in der Verantwortung, „auch andere relevante Themen abzubilden“.

„Intensiv“ ist denn auch ein Adjektiv, das Fuhst im Laufe des Gesprächs oft verwenden wird. Und besonders intensiv ging es bei ihm am gestrigen Freitag zu.

Helge Fuhst verantwortet seit 2019 als Zweiter Chefredakteur von ARD-aktuell ja nicht nur die „Tagesthemen“. Er moderiert sie gelegentlich auch. Er ist das Back-up von den drei Hauptmoderatoren Ingo Zamperoni, Caren Miosga und Aline Abboud. Weil Zamperoni gestern eigentlich dran war, aber sich in Köln der kurzfristig programmierten Benefiz-Sendung „Wir helfen – Gemeinsam für die Ukraine“ widmen musste, sprang Fuhst bei den Spätnachrichten ein mit einer Ausgeruhtheit und Souveränität, die man in der Stunde vor Mitternacht nur bestaunen kann.

Wirkte noch die kleine Verschnaufpause nach, die ihm am Mittwoch vergönnt war? Der 2. März war sein Geburtstag, der 38. Bei einem Abendessen mit der Familie wurde gefeiert, während sich das News-Rad in der Redaktion von ARD-aktuell unaufhaltsam weiterdrehte. Feierstimmung kam beim Jubilar, man glaubt es ihm sofort, aber nicht recht auf.

„Auch wenn man mal einen Abend frei hat, irgendwie kommt man nicht ganz raus aus den Gedanken über das, was gerade in der Ukraine und Russland passiert.“ Das gehe aber nicht nur ihm so: „Viele von uns nehmen den Krieg nach Dienstschluss mit nach Hause. Den Moment zum Innehalten gibt es momentan einfach nicht, allein weil wir von früh bis spät und teilweise die Nächte durch berichten. Die Herausforderung ist jetzt, das Publikum durch diese Zeit mitzunehmen, indem wir immer wieder das Geschehen einordnen.“

Nur wie stellt man das am besten an? Was bringt man in den „Tagesthemen“, wenn die meisten über den Tag schon fast alles gehört, gesehen und gelesen haben?

Als Helge Fuhst vor bald drei Jahren vom Sender Phoenix, dessen Ko-Leiter er war, zur Hamburger Nachrichtenzentrale der ARD stieß, machte er sich genau an diese Frage ran. Er war überzeugt davon, dass man am Ende des Tages nicht unbedingt auf jede einzelne Meldung eingehen, sondern mehr Vertiefung anbieten müsse. Die Mediennutzung habe sich, zumindest unter den Social-Media-affinen „Tagesthemen“-Guckern, geändert: „Wir müssen den Leuten einen Grund geben, weshalb sie spät abends noch einschalten sollen.“

Und, das muss man an dieser Stelle ergänzen: nicht bei der Konkurrenz einschalten.

Seit vorigem August legt „RTL direkt“ in der Regel zeitgleich um 22.15 Uhr los, was der „Tagesthemen“-Quote nicht nachhaltig zu schaden scheint. Der Marktanteil stieg 2021 sogar leicht auf 11,45 Prozent. Laut Fuhst liegt das daran, dass beide Formate „sehr unterschiedlich“ seien, „allein schon von der Länge her“, und deswegen jedes sein eigenes Publikum finde.

Raum für Geschichten aus dem wahren Leben

Was den Unterschied macht? Bei den „Tagesthemen“ versuchten sie, „den schnellen News-Cycle herunterzufahren, um Geschichten aus dem wahren Leben Raum zu geben“, erklärt Fuhst. „Wir verstehen uns auch als Geschichtenerzähler.“ Und diese Geschichten lassen sie sich vor allem in Live-Interviews erzählen. „Nicht zuletzt wissen wir: Am nächsten Tag erinnern sich die Menschen am ehesten an ein Interview in unserer Sendung.“

Derzeit dürften vor allem die Gespräche mit Ukrainerinnen und Ukrainern haften bleiben. Manche, wie die Journalistin Anna Kosstutschenko, schalteten sich aus ihrem Badezimmer zu, während draußen Bomben Leben zerstören. „Wenn sie auf die Frage, was ihr nächstes Ziel sei, antworten: einfach weiterleben, dann sind das so intensive Eindrücke, wie wir sie in den ,Tagesthemen‘ vermitteln wollen.“

Auf diese Zahl blickt der „Tagesthemen“-Chef denn auch mit Stolz: 65 Interviews mehr als im Vorjahr brachten sie in 2021. Und es sind nicht nur mehr geworden, sondern meist auch längere Gespräche, vier, fünf Minuten lang, ganz klassisch mit Politikern, aber auch Expertinnen wie der früheren Russland-Korrespondentin des „Stern“, Katja Gloger, die Fuhst gestern Abend zu Moskaus drakonischen Haftstrafen gegen missliebige Berichterstattung über die russische Armee befragte.

Dass sie in den vergangenen Monaten unter den Experten genauso viele Frauen hatten wie Männer, ist Fuhst wichtig zu betonen. Sogar ganz ohne Quote hätten sie das geschafft, „wir haben es einfach gemacht“. Natürlich sei es einfacher, wenn es schnell gehen muss, auf lang bekannte Köpfe zurückzugreifen. „Aber wenn wir Diversität und Meinungsvielfalt wirklich ernst nehmen, müssen wir auch neuen Gesichtern und Perspektiven eine Stimme geben.“

Helge Fuhst © NDR / Nadine Rupp
Und auch das brachte Fuhst als Neuerung in die „Tagesthemen“ ein: die Rubrik „Mittendrin“, in der Reporter in die Region ausschwärmen, ob ins thüringische Kaff Bollstedt oder die Metropole Köln. Neun ARD-Anstalten, die aus allen Himmelsrichtungen zuliefern – das klingt nach einer großen Organisationsaufgabe und ist es auch. Doch nach anderthalb Jahren „Mittendrin“ könne er sagen: „Die ARD hat sich von ihrer besten Seite gezeigt. Wir bekommen viel mehr Angebote, als wir senden können, was uns zeigt: Die regionale Verwurzelung ist und bleibt eine der größten Stärken der ARD.“

Er selbst ist eine Großstadtpflanze, in Hannover geboren. Nach dem Politik-Studium, das er mit einer Promotion über Barack Obama abschloss, volontierte Fuhst beim NDR. Stationen als Fernsehautor im Landesfunkhaus seiner Geburtsstadt, als Producer im ARD-Studio Washington und als Moderations-Redakteur bei den „Tagesthemen“ in Hamburg folgten. Dort war damals Tom Buhrow Anchor. Als dieser WDR-Intendant wurde, nahm er Fuhst als Referent mit nach Köln. Den Beinamen „Buhrows Zögling“ hat er seither weg.

Dass Journalisten auch als Medienmanager taugen, weil sie Rahmenbedingungen für journalistisch gutes Arbeiten aus eigener Erfahrung kennen, muss sich Helge Fuhst bei seinem Mentor abgeschaut haben. Auch er will „gestalten und verbessern“. Er verstehe Management „als Möglichmachen von gutem Journalismus“. Bei ARD-aktuell, ähnlich wie zuvor bei Phoenix, könne er das, weil es ein Haus „mit wenigen und flachen Hierarchien“ sei. Jeder kenne jeden. Das komme seiner Arbeitsweise entgegen: gemeinsam und schnell die besten und kreativsten Ideen sammeln und umsetzen. „Gerade in Krisenzeiten wie jetzt ist es wichtig, dass jeder jeden erreichen kann und Ideen nicht auf irgendwelchen Hierarchieebenen steckenbleiben.“

„Erreichen“ ist da ein gutes Stichwort. Gerne hätte man mit Helge Fuhst über die Kritik gesprochen, die gerade auf die ARD einprasselt: Die Korrespondentenpower, der sie sich oft und gerne rühmt, warum erreichte sie nicht die Bildschirme, während zum Beispiel der CNN-Reporter Matthew Chance auf einem Kiewer Dach ausharrte, und wo war ein ARD-Mikrofon, als es „Bild“-Haudegen Paul Ronzheimer bis vor die Füße von Russlands Staatsfeind Nummer 1 schaffte?

Es ist aber ein Thema, für das sich der ARD-aktuell-Chefredakteur nicht zur Auskunft berufen fühlt. Die Zuständigkeit innerhalb der ARD liegt in diesem Fall woanders, beim WDR. Ach, Hierarchie.

Dann lieber zum Schluss über etwas Unverfängliches reden. Über Musik und über jene „Tagesthemen“-Sendung, die im Oktober mit einem Live-Auftritt der „Ärzte“ überraschte.

Gut, „Die Ärzte“ haben wenig mit David Bowie, Gott hab ihn selig, gemein. Den Coup soll die vormalige „Tagesschau“-Kraft Linda Zervakis vermittelt haben. Aber für Helge Fuhst, der Klavier lernte und in einer Band spielte, ist es ein Paradebeispiel dafür, „wie man Seriosität mit Überraschung und Traditionelles mit Neuem verbindet, sodass wir mehr Menschen erreichen“. Denn eins wollen die „Tagesthemen“ auf keinen Fall sein: eine Elite-Sendung nur für Intellektuelle.

Das allerletzte Wort, und damit wäre Helge Fuhst sicher sehr einverstanden, soll David Bowie haben:

Dying for the weekend
And I’ll be fine
I’m only sleeping in my head
And I can fly.

Und nun Abflug in ein friedvolles Wochenende!