Johannes Boie war noch nicht lange im Amt des "Bild"-Chefredakteurs, da musste er sich direkt mit einer veritablen Krise beschäftigen. Als die Boulevardzeitung Anfang Dezember unter dem Titel "Die Lockdown-Macher" einen Artikel veröffentlichte und darin mehrere Wissenschaftler abbildete, hagelte es Kritik - gerade auch aus der Wissenschaft. Zahlreiche Organisationen stellten sich hinter die im Artikel genannten Personen und die Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen machte unmissverständlich klar, dass hier eine rote Linie überschritten wurde. 

Die Kritik ist auch bei Boie angekommen. Vor wenigen Wochen kündigte die "Bild" eine neue Veranstaltungsreihe an, um mit verschiedenen Personen und Organisationen in einen Dialog zu kommen. Zum Start sprach man am heutigen Freitag mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Erklärtes Ziel war es, über die Rolle des Boulevardjournalismus in Zeiten der Pandemie zu sprechen. Was kann besser werden? Und was braucht es dafür?

Veranstalter des Talks waren neben "Bild" auch die Helmholtz-Gemeinschaft, die Hochschulrektorenkonferenz und die Max-Planck-Gesellschaft, was den wissenschaftlichen Organisationen schon im Vorfeld Kritik eingebracht hatte. Es hieß, man würde die "Bild"-Berichterstattung auf diese Weise legitimieren und sich an einer Art Reinwaschung des Blattes beteiligen. Dem trat Otmar D. Wiestler, Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft, direkt zu Beginn entschieden entgegen und betonte, als Wissenschaftler sei man immer dialogbereit. Gleichzeitig äußerte Wiestler scharfe Kritik an dem "Lockdown-Macher"-Artikel der "Bild". Dieser habe in "eklatanter Weise" gegen die professionellen Regeln der Kommunikation verstoßen. 

Boie "mehr als unglücklich" über Text

Hier war sich die Runde, inklusive des "Bild"-Chefredakteurs, auch einig. Johannes Boie warf sich quasi in den Staub und erklärte, der Text sei "mehr als unglücklich" gewesen und er würde ihn so heute auch nicht mehr bringen. Es ändere sich aktuell sehr viel bei "Bild", sagte Boie, der auch darauf verwies, dass man Kritik an dem Text "sehr klar abgebildet" habe. Dass durch den Text eine rote Linie überschritten worden sei, habe er begriffen, so Boie weiter. Der "Bild"-Chefredakteur versprach außerdem, künftig jede Personalisierung von Themen genau zu prüfen. Er nehme aus der Runde unter anderem mit, dass Menschen in der Wissenschaft nicht so sehr in der Öffentlichkeit stünden wie etwa Politikerinnen und Politiker. 

Ansonsten war es aber eine merkwürdige Veranstaltung, die mit etwas mehr als einer Stunde zudem zu knapp bemessen war. Die Personen auf dem Podium hätten auch noch deutlich länger sprechen können. So bestand der erste Teil gefühlt aus einem Abfragen, was die Teilnehmenden für Erwartungen an das Podium haben. Dann durfte jeder noch eigene Vorschläge einbringen und prompt folgte schon das Fazit. Eine richtige Diskussion kam so leider nicht zustande. Die Veranstaltung war eher eine Aneinanderreihung von durchaus spannenden Aussagen, über die aber zu wenig diskutiert wurde. Symbolisch dafür der "Bild"-Chefredakteur, der jede Kritik und alle Aussagen über die "Bild" regungslos zur Kenntnis nahm und nie direkt auf das Gesagte einging - unter Julian Reichelt wäre das unvorstellbar gewesen. 

Veranstaltung als eine Entschuldigung?

Mit in der Runde saßen übrigens auch Viola Priesemann, Leiterin einer Forschungsgruppe beim Max-Planck-Institut, und Michael Meyer-Hermann, Leiter der Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Beide Wissenschaftler wurden im heftig kritisierten "Bild"-Artikel namentlich genannt. Meyer-Hermann erklärte unter allem, dass ihm quasi alle Personen von der Veranstaltung abgeraten hätten. Er würde sie trotzdem machen, weil er von der Solidarität aus der Wissenschaft beeindruckt gewesen sei. Außerdem glaube er, dass die Veranstaltung "eine Form von Entschuldigung" sei. Er hätte sich nur auch gefreut, wenn das bei den Leserinnen und Lesern angekommen wäre, so der Wissenschaftler. Grundsätzlich müsse man in einen Dialog kommen, weil die "Bild" mit ihrer großen Leserschaft eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Gesellschaft spiele. 

"Mehr Wissenschaft in ‘Bild’, da bin ich dabei."
"Bild"-Chefredakteur Johannes Boie

Viola Priesemann kritisierte, dass im Boulevardjournalismus immer die extremsten Szenarien aufgegriffen würden. Wenn es heiße, bis zu 100.000 Menschen könnten sterben, heiße das eben nicht, dass das auch wahrscheinlich sei. Hier forderte sie auch die "Bild" dazu auf, sich wieder mehr auf die vielleicht weniger spektakulär klingenden Zahlen zu konzentrieren. Wenn nur Extreme kommuniziert werden würde, führe das zu einer Polarisierung, so Priesemann. Dass viele exzellente Kolleginnen und Kollegen nicht an die Öffentlichkeit gehen, weil sie Bedenken haben, an den Pranger gestellt zu werden, sollte zu denken geben, so die Wissenschaftlerin, die die Meinung vertrat, dass die Wissenschaft forscht und mögliche Folgen darlegt, während die Politik entscheiden muss, was daraus folgt. 

Mehr Wissenschaft in "Bild"

Hier gab es leisen Widerspruch von Johannes Boie, der erklärte, viele Politikerinnen und Politiker würden sich inzwischen ganz explizit auf die Wissenschaft beziehen, wenn sie über bestimmte Entscheidungen sprechen. "Da sehe ich es schon als Aufgabe von Journalismus, Aussagen von Wissenschaftlern zu bewerten und zu kritisieren". Dennoch sollte niemand einen Shitstorm abbekommen, so Boie - "schon gar nicht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler". Der "Bild"-Chefredakteur erklärte auch mehrfach, dass er wisse, wie sich solche Shitstürme anfühlen. Seine Mitarbeitenden seien dem quasi täglich ausgesetzt. Außerdem verwies Boie immer wieder auf die Rolle der sozialen Netzwerke, die er dafür kritisierte, Hass und Hetze zum angeblichen Geschäftsmodell zu machen. 

"Wer Journalismus als Elitenprojekt begreift und Boulevard gar nicht will, tut dem Journalismus nichts Gutes."
"Bild"-Chefredakteur Johannes Boie

Ein konkreter Vorschlag von Michael Meyer-Hermann in der Runde war unter anderem eine regelmäßige Wissenschafts-Seite in der "Bild", auf der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bestimmte Themen "ohne Meinung und neutral" darlegen sollen. Das schließe Widerspruch nicht aus, so Meyer-Hermann. Boie verwies darauf, dass man eine solche Seite habe, die vielleicht nur nicht so aussehe, wie sich der Wissenschaftler das vorstelle. Außerdem stellte Boie einen Ausbau des Wissenschaftsjournalismus im Blatt in Aussicht. "Mehr Wissenschaft in ‘Bild’, da bin ich dabei", so der Chefredakteur, der außerdem hofft, das künftig mehr Menschen aus der Wissenschaft ans Telefon gehen, wenn ein "Bild"-Journalist anruft. 

Einig waren sich alle in der Runde, dass es den Boulevardjournalismus brauche, um komplizierte Themen in die Breite der Bevölkerung zu bringen. Aufgabe der Wissenschaft müsse es aber auch werden, verständlicher zu werden, sagte Michael Hallek von der Uniklinik Köln und Mitglied des Wissenschaftsrates. "Wer Journalismus als Elitenprojekt begreift und Boulevard gar nicht will, tut dem Journalismus nichts Gutes", zeigte sich "Bild"-Chef Boie überzeugt. "Boulevard muss Boulevard bleiben", so Boie.

Das kann nur ein Anfang gewesen sein

Am Ende dankte Johannes Boie allen Anwesenden für das "fruchtbare, kluge und differenzierte Gespräch", auch wenn man ohne konkretes Ergebnis auseinander ging. Außer: Man will im Gespräch bleiben und verhindern, dass das Klima der sozialen Netzwerke auch auf die großen Boulevardmedien überschlägt. "Bild" müsse die Dialog- und Streitkultur positiv prägen und sich da nicht Social Media angleichen, so Michael Hallek. Und Michael Meyer-Hermann stellte fest, dass man oft unterschiedliche Dinge meine, auch wenn man die gleichen Worte benütze. Um das aufzulösen, bedürfe es eines permanentes Austausches. 

Am Ende war es vielleicht am überraschendsten, wie handzahm sich die "Bild" in Form von Chefredakteur Johannes Boie auf dem Podium gab. Ein "Bild"-Chefredakteur, der den Dialog mit der Wissenschaft sucht und sich für einen Fehler in einem Artikel entschuldigt, ja quasi in den Staub wirft? Das hätte es zu Zeiten von Julian Reichelt wohl nicht gegeben. Dennoch kann die Veranstaltung am Freitag maximal ein Anfang gewesen sein. Zu viele Fragen sind nach der Diskussion, die keine richtige war, offen. Dass es aber überhaupt zu einem Austausch kommt, ist schon positiv zu bewerten.