Herr Burgard, Sie sind seit April beim Nachrichtensender Welt, inzwischen als Chefredakteur. Was ist anders als bei Ihrer vorherigen Arbeit für die ARD?

Als USA-Korrespondent der ARD war ich vor allem für meine eigenen Reportagen und Live-Schalten verantwortlich. Bei Welt trage ich die Verantwortung für 170 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mindestens 14 Stunden am Tag live Nachrichten produzieren. Besonders viel Freude macht es, gemeinsam mit dem Team all das Potenzial zu entdecken und abzurufen, das in unserer Redaktion liegt – auch über die tägliche aktuelle News-Produktion hinaus.

Welches Potenzial haben Sie ausgemacht?

Zum Beispiel produzieren wir jetzt auch lange Reportagen und Dokumentationen selbst, die bislang hauptsächlich extern eingekauft wurden. Das ist eine Herausforderung, weil das Team bisher gewohnt war, vorwiegend Filme in einer Länge von eineinhalb Minuten zu machen und nicht von einer Stunde. Viele Redakteurinnen und Redakteure beflügelt diese Erweiterung unseres Programmangebotes regelrecht, weil sie ihre Kreativität und ihre Fähigkeiten mehr als bisher ausspielen können. Die ersten Ergebnisse, die wir gesendet haben, sind erfolgreich gelaufen – angefangen mit einer Doku über Antisemitismus in Deutschland, über eine Taliban-Reportage bis hin zu einem Film anlässlich des 20. Jahrestags der Anschläge vom 11. September. Bis 2023 wollen wir jährlich 30 solcher Reportagen produzieren.

Wo wollen Sie im Tagesgeschäft Veränderungen herbeiführen?

Wir möchten noch weiter über die reine Chronistenpflicht hinausgehen. Wir werden relevanter, hintergründiger und meinungsfreudiger. Das ist uns in den letzten Monaten schon gelungen und es kommt offensichtlich an. Noch nie in der Sendergeschichte waren wir werktags beim werberelevanten Publikum über den gesamten Tag zwischen 6 und 20 Uhr so erfolgreich. Gleichzeitig haben wir die Verweildauer deutlich auf 23 Minuten gesteigert. Der Anteil von 14- bis 49-jährigen Frauen ist im Vergleich zu vor der Pandemie von 26 auf 40 Prozent gestiegen.

Wenn alles so erfolgreich ist, dann könnten Sie sich ab sofort zurücklehnen.

(lacht) Wer sich zurücklehnt, kippt schnell hinten über. Wir bleiben in Bewegung und haben noch viel vor. Ab heute strukturieren wir unsere Live-Strecke zwischen 6 und 20 Uhr neu. Das Ziel ist, unserem Publikum noch mehr Orientierung zu geben und noch dichter dran zu sein am Informations-Rhythmus der Menschen. Zwischen 6 und 9 Uhr, zu einer Zeit, in der uns viele Entscheiderinnen, Entscheider und Multiplikatoren sehen, setzen wir auf "Die Welt am Morgen". Wir informieren darüber, was in der Nacht passiert ist und geben einen Ausblick auf die Themen, die den Tag bestimmen werden. Zwischen 9 und 12 Uhr folgt "Welt Newsroom" mit dem gewohnten Schwerpunkt auf unseren Reporterinnen und Reporter vor Ort, den Live-Übertragungen von wichtigen Pressekonferenzen, Expertinnen und Experten, die im Studio zu Gast sind, sowie gut verständlichen Erklär-Präsentationen an unseren LED-Screens. Zwischen 12 und 14 Uhr zieht "Die Welt am Mittag" eine erste Zwischenbilanz des Nachrichtentages. Da spielt dann auch die Börse eine wichtige Rolle. Bis 17 Uhr folgt erneut der "Welt Newsroom". Während unserer Sendestrecke "Die Welt am Abend" von 17 bis 20:05 blicken wir wiederum auf die Börsen. Außerdem ordnen unsere Studiogäste das Weltgeschehen ein und setzen dabei stärker als bisher auf Meinung. 

Das klingt ein wenig nach amerikanischem Nachrichtenfernsehen.

Wir orientieren uns nicht an amerikanischen Sendern wie MSNBC und FOX News, die auf der linken oder rechten Seite quasi nur noch „opinion driven journalism“ machen und gar keine klassische Nachrichtenberichterstattung liefern. Aber es ist unser erklärtes Ziel, auf bestimmten Strecken ein breites Meinungsspektrum abzubilden und dem Publikum Perspektiven anzubieten, die sie bei anderen Sendern nicht finden. Wir werden also regelmäßig Stefan Aust, Henryk M. Broder, Ulf Poschardt, Dagmar Rosenfeld oder Anna Schneider im Studio begrüßen, die das Zeitgeschehen klug und pointiert analysieren. Wichtig ist mir dabei, dass wir Meinung auch als solche kennzeichnen.

Generell fällt auf, dass Sie schon jetzt mehr denn je auf Talks im Programm setzen.

Ja. So konnte ich Olaf Scholz am Tag seines Amtsantritts zu seinem ersten ausführlichen Interview als Bundeskanzler bei uns im Studio begrüßen. Wir haben die Zahl von Gesprächen mit prominenten Gästen im Studio so sehr gesteigert, dass die Maske kaum noch hinterherkommt (lacht). Inzwischen gehen bei uns Spitzenpolitikerinnen und -politiker ein und aus. Das führt dazu, dass wir in den Nachrichtenagenturen so viel zitiert werden wie nie zuvor. 

 

"Die Moderatorinnen und Moderatoren im US- Nachrichtenfernsehen werden auch deshalb als Stars betrachtet, weil sie nicht nur die Nachrichten präsentieren, sondern viel Persönlichkeit einbringen. Dazu ermutige ich auch unser Moderationsteam."

 

Abgesehen von der Meinungsfreude: Was lässt sich vom US-Nachrichtenfernsehen auf deutsche Nachrichtensender übertragen?

Vielleicht ein gelegentlich optimistischer Blick. Ich habe zum Beispiel die gute Nachricht des Tages eingeführt. Die Spanne reicht von der sinkenden Zahl an HIV-Infektionen bis hin zu einem geretteten Bären-Baby. Diese neue Rubrik ist auch eine Reminiszenz an Axel Springer, der im "Hamburger Abendblatt" auch immer eine gute Nachricht veröffentlichen ließ. Die größte Lehre aus meiner Zeit in den USA ist allerdings, im Journalismus nicht die Nähe zu den Menschen zu verlieren, auch wenn das vielleicht etwas pathetisch klingt. Die meisten politischen Beobachterinnen und Beobachter haben 2016 nicht vorhergesehen, dass Donald Trump Präsident wird, weil sie nur in ihrer Washingtoner Bubble schmorten und nicht mehr fragten, wofür sich der Durchschnittsamerikaner interessiert. Auch in Deutschland gibt es die Tendenz, Debatten zu führen, die nur die eigene Filterblase bedienen. Mir ist wichtig, auch die Lebenswirklichkeit der Menschen jenseits der Hauptstadt zu zeigen und ihnen eine Stimme zu geben. Wir wollen die Welt zeigen, wie sie ist – und nicht wie wir sie gerne hätten. Noch ein Punkt zu Amerika: Die Moderatorinnen und Moderatoren im US- Nachrichtenfernsehen werden auch deshalb als Stars betrachtet, weil sie nicht nur die Nachrichten präsentieren, sondern viel Persönlichkeit einbringen. Dazu ermutige ich auch unser Moderationsteam. 

Jan Philipp Burgard und Olaf Scholz © Welt Chefredakteur Jan Philipp Burgard in der vergangenen Woche im Gespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz.

Ihr Wechsel zu Welt erfolgte in diesem Jahr nur wenige Wochen bevor der Umzug in den Springer-Neubau erfolgte. Bis dato wirkten der Welt-Nachrichtensender und die gedruckten Zeitungen mitunter wie Parallelwelten. Wie viel Einheit gibt es wirklich?

Es war eines meiner ersten Ziele, das Zusammenwachsen zu beschleunigen und über neue Workflows die Zusammenarbeit zu etablieren. Das ist etwa gelungen, indem wir die vielen klugen Köpfe von Welt Print und Digital nun vermehrt als Expertinnen und Experten im Studio sehen.  Schreibende Auslandkorrespondentinnen und -korrespondenten haben wir geschult, damit sie live auf Sendung gehen können. Erstmals in der Geschichte unserer Welt-Gruppe setzen wir Recherchen des Investigativ-Teams auch fürs TV um. Umgekehrt finden unsere TV-Interviews den Weg in die Zeitung und eine TV-Reportage ist neuerdings auch ganz selbstverständlich in der "Welt am Sonntag" zu lesen. Das ist eine echte Win-Win-Situation.

Mit dem Umzug ging auch ein neues, opulentes Studio einher. Welche Learnings gab es seither?

Wir lernen jeden Tag und haben das Potenzial bei Weitem noch nicht ausgereizt. Bei der Bundestagswahl haben wir beispielsweise mit Augmented Reality gearbeitet, was im Tagesgeschäft bislang nur selten der Fall ist. Damit wollen wir demnächst beim Wetter weitermachen. Auch unsere LED-Panels sind ein fantastisches Mittel, um für die Zuschauerinnen und Zuschauer Abwechslung zu schaffen. Das Studio bietet unfassbar viele Möglichkeiten. Wir hatten in den vergangenen Wochen schon Besuchergruppen aus Israel, Frankreich und Amerika hier, die alle hin und weg waren. Das macht einen schon stolz, wenn Amerikaner, die die große Nachrichtenshow gewissermaßen erfunden haben, staunend in unserem Studio stehen.

Inwiefern hilft es, dass das Studio echt ist und nicht aus dem Computer kommt?

Das macht einen großen Unterschied, gerade für die Erklärungen an den LED-Screens, die wir groß inszenieren können, aber auch für Breaking-News-Situationen in denen die Moderatorinnen und Moderatoren sehr lange im Studio sitzen. Dazu kommt der Blick in den Newsroom, den wir auch vorher schon hatten. Unsere Zuschauerinnen und Zuschauer sollen sehen, dass hier echte Menschen Nachrichten für sie machen.

Herr Burgard, vielen Dank für das Gespräch.