Coppenbrügge ist eingefroren. Nichts bewegt sich mehr. Ausgerechnet in diesem augen- und ohrengespitzten Moment, als Annette Hess ansetzt, um sich über die aus ihrer Sicht ungerechtfertigte Kritik an ihrer Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ auszulassen, streikt die Videotechnik im Kölner Filmpalast, wohin die preisgekrönte Drehbuchautorin an diesem Donnerstag aus ihrem Atelier in Coppenbrügge zugeschaltet ist. Thema der Diskussionsrunde im Rahmen des Filmfestival Cologne ist: „Reinventing History“. Und wer könnte erfolgreicher „Geschichte neu erfinden“ als Annette Hess, die Serienschöpferin von „Weissensee“ und „Ku’damm“?

Sie selbst würde wohl selbstbewusst, wie sie ist, sagen: niemand. Mit dieser Selbstgewissheit, gepaart mit Durchsetzungsvermögen und nicht zuletzt begnadetem Talent hat es Annette Hess nicht nur in die Oberklasse des seriellen Erzählens geschafft. Sie ist auch Vorkämpferin für mehr Mitsprache und Sichtbarkeit der schreibenden Zunft.

Vor bald vier Jahren gründete sie mit Kristin Derfler, Orkun Ertener und Volker A. Zahn die Initiative „Kontrakt 18“. Als „Aufstand der Autoren“ („Spiegel Online“) wurde bezeichnet, was das Quartett sich und seinen Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern auf die Fahnen schrieb. Dass sie also nur noch Verträge unterschreiben wollen, die ihnen zum Beispiel Verantwortung für ihr Buch bis zur endgültigen Drehfassung einräumen. Das war nicht selbstverständlich und ist es trotz vieler Erfolge immer noch nicht. Erst zufällig auf einer Party erfahren, dass längst jemand anderes an der zweiten Fassung des eigenen Werks schreibt – solche Geschichten über die Geringschätzung von Autorenschaft erleben selbst gestandene Schreiber.

Die Frage ist: auch Annette Hess? Was hat sie erlebt? Was ist ihre Geschichte?

Zwei Tage vor ihrem Filmfestival-Auftritt geht Annette Hess ganz old school (aber die sicherere Verbindungsvariante) ans Telefon in Coppenbrügge. In dem 7000-Einwohner-Flecken hat die gebürtige Hannoveranerin sich ihren privaten Writer’s Room eingerichtet. Nicht weit von dort, wo einst der Rattenfänger von Hameln Kinder in eine Berghöhle entführte (was für eine bad old story!), entstehen Serienhits über deutsche Vergangenheit. Das ist Annette Hess‘ Spezialität: in fremde Welten eintauchen, um sie neu zu entdecken mit der Perspektive von heute.

Annette Hess © Ferran Casanova
Gerade arbeitet sie an der Verfilmung ihres Debütromans „Deutsches Haus“. Er handelt von den Auschwitzprozessen und basiert auf 400 Stunden Tonbändern des Grauens. Aus diesem Stoff soll, nein, kein Einzelstück werden, sondern eine Serie.

Schon wieder eine Serie? Als gäbe es nicht schon genug Serien!

Das sei heute „fast schon ein Running Gag“, dass man aus allem eine Serie macht, pflichtet Annette Hess bei und erinnert dann daran, dass 2007, als sie die Familiensaga „Weissensee“ konzipierte, Serien dieser Art „überhaupt nicht gefragt“ waren. Aber sie blieb hartnäckig. Denn sie war überzeugt: Dieser Stoff ist es wert, so liebevoll und genau wie möglich betrachtet zu werden. „Ich möchte meine Figuren eben öfter sehen und länger beobachten. Und das geht natürlich am besten mit Erzählzeit, die über 120 Minuten hinaus geht.“

Ginge es nach ihr, sollte eine Serienfolge sogar 55 statt der üblichen 45 oder 50 Minuten dauern, damit man zwischendurch durchatmen und die Figuren auch mal „etwas ganz Banales“ machen lassen kann, „ob sie jetzt ein Hühneraugenpflaster auflegen oder in Echtzeit ihren Autoschlüssel suchen“. Aber leider, fährt die Serienschreiberin fort, gebe es „die Sorge, dass die Aufmerksamkeitsspanne des Zuschauers dafür zu gering ist“.

Andererseits, Annette Hess hat in ihrer Karriere schon so viel durchgesetzt. Warum nicht auch einen Close-up aufs Hühnerauge?

Seit 2001 arbeitet sie, die Serielles Schreiben in Berlin studierte, als Drehbuchautorin. Mit „Benjamin Blümchen“ (ZDF) fing sie an. Es folgten Fingerübungen für die ARD-Krankenhaussoap „In aller Freundschaft“ und „SOKO Köln“-Krimis im ZDF, bis ihr Name 2007 im Zweiteiler „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ mit Veronica Ferres das erste Mal über den unter ferner liefen Abspann hinaus zu leuchten begann. 2010 dann, mit der Ausstrahlung von „Dallas in der DDR“, also der Stasi-Story von den Kupfers und den Hausmanns in „Weissensee“, hatte sich Annette Hess nicht nur Reputation als Erzählerin von bingetauglicher Fernsehware erschrieben. Diese Erfahrung stärkte auch ihren Widerstandsgeist und Verhandlungsmut.

Ein Satz wie „da muss noch ein männlicher Blick drauf“ und dann macht sich ein Freund des Regisseurs daran, das Buch zu überarbeiten, was natürlich vom Honorar abgeknapst wird – so was, zwei, drei Mal hat sie es erlebt, wollte Annette Hess nicht mehr mit sich geschehen lassen. Zumal wenn die Überarbeitung etwa einer Sexszene folgendermaßen aussieht: Aus ihrer Anweisung „sie schlafen miteinander“ wurde tatsächlich einmal „er dringt in sie ein und sie schlafen miteinander“ gemacht. Der männliche Blick eben.

Ohne ins Detail gehen zu wollen, erzählt Annette Hess, dass sie bei „Weissensee“ als kreative Stimme „gerne mehr gehört“ worden wäre. Sie lieferte die Drehbücher ab. Danach hatte sie keinen weiteren Einfluss mehr auf die Produktion, die, so viel ist ja bekannt, nach der dritten Staffel ohne sie weiterging. Bei „Ku’damm 56“, ihrem nächsten Großprojekt, ging die heute 54-Jährige gleich anders vor. Ihrer damaligen Agentin sagte sie klipp und klar: Wenn das ZDF mit meiner Konzeption nicht einverstanden ist, dann mache ich es nicht. Dann mache ich aus dem Stoff einen Roman oder was auch immer.

Hess blieb eisern. Das ZDF vertraute. Und es wurde für alle Beteiligten gut. Sehr gut sogar. Für den Sender: Marktanteile von fast 20 Prozent. Für die Autorin: der Deutsche Fernsehpreis für das beste Buch. Und demnächst soll es sogar eine vierte Staffel über die Tanzschule der Schöllacks geben.

Dem Nachwuchs an den Filmhochschulen, wo sie gelegentlich doziert, impft die in Kompromisslosigkeit Geübte ein, ihr Gleiches nachzutun: Wenn ihr ein echtes Herzensprojekt habt, aber euer Baby wird nicht gut behandelt, dann lasst es. Schützt eure Vision, hebt das Neugeborene auf, tragt es mit euch herum, bis ihr den richtigen Partner gefunden habt. Und um die Miete zu sichern: Bewerbt euch bei Weeklys oder schreibt Scripted Reality. Staff Writing oder Auftragsarbeiten seien „sowieso eine gute Schule“. Da spricht ihre eigene Erfahrung.

Wer sich zwei Jahre oder mehr mit einem Stoff beschäftigt hat, weiß sehr genau, was am besten für sein Projekt ist.

Annette Hess

„Ökonomisches Erzählen“, wie Annette Hess es nennt, habe sie bei „In aller Freundschaft“ gelernt. Dort dürfe man zum Beispiel keine zehnköpfige Familie am Krankenbett erfinden. Pro Folge seien höchstens drei Schauspieler zusätzlich erlaubt. „Das heißt, man muss die meisten Geschichten mit dem festen Ensemble erzählen.“ Sich zu beschränken, ist für sie seither kein Problem. Auch nicht bei einer historischen Serie wie „Ku’damm“ mit all dem Ausstattungstamtam. Kommt der Anruf, Annette, das ist zwei Millionen zu teuer, setzt sie sich hin. „Inzwischen kann ich eine Million rausschreiben. Dann sieht man nicht die Party, sondern sie kommen von der Party.“

Man versteht sofort, wieso es zwischen Annette Hess und dem ZDF so gut lief, nicht wahr?

Dass „Ku’damm“ für sie eine „großartige, beglückende Arbeitserfahrung“ war, liegt aber in erster Linie auch daran: Die Redaktion, mit der sie es zu tun hatte, habe als eine der ersten in Deutschland verstanden, „dass Autorinnen und Autoren in der Hierarchie von Produktionen eine Wertschätzung erfahren müssen, wie sie bei den Streamingdiensten aus Übersee bereits gang und gäbe ist“. Nicht, dass Annette Hess selbst grundsätzlich den Status einer „Showrunnerin“ im internationalen Sinn anstrebt, also die Leitung des gesamten künstlerischen Prozesses bis hin zum Eingriff in die Inszenierung und Schauspielerführung. Aber auf ihre Geschichten, auf ihre Figuren „aufpassen“, auch im Schnitt, das will sie schon. In kreativer Teamarbeit. Auf Augenhöhe.

Was sie sich als entscheidenden Punkt in den ersten „Ku’damm“-Vertrag hinein verhandeln ließ und was später in den „Kontrakt 18“-Forderungskatalog für faire Verträge, bei denen sich alle Seiten wohlfühlen sollen, einging: das Mitbestimmungsrecht bei der Auswahl der Regie. „Wer sich zwei Jahre oder mehr mit einem Stoff beschäftigt hat, weiß sehr genau, was am besten für sein Projekt ist.“ Aber bis heute gibt es Annette Hess zufolge diesbezüglich „viel Widerstand“.

Annette Hess © Ferran Casanova
Wer hat die Urheberschaft? Auch das sei ein Streit, „der noch nicht beigelegt ist und vielleicht auch nicht beizulegen ist, weil es viele Graubereiche gibt“. Und weil eben viele Gewerke am kreativen Prozess beteiligt sind. Regisseure etwa beanspruchen ebenso für sich, etwas zu kreieren. Aber sollen ihre Namen hinter der Formulierung „Created by“ genannt werden? Hess findet: nein. International sei das ein reiner Autorencredit, „und so sollte er auch in Deutschland verwendet werden“. Denn: „Regisseur*innen sind die Dirigent*innen, wir Autor*innen die Komponist*innen der Musik.“

Es wird also weiter hart verhandelt. Mit allen Seiten. Tag für Tag. So hat sich bei der ARD und deren Tochter Degeto eine neue Front aufgetan. Deren „Leitlinien zur Zusammenarbeit mit den Drehbuchautoren und Drehbuchautorinnen“ gefallen Annette Hess und ihrer Kontrakt 18-Truppe nicht: „gut gemeint, aber butterweich“. Glücklicherweise sehe das der Verband der Drehbuchautoren VDD inzwischen genauso. „Sechs, sieben Hundert Autor*innen stehen jetzt hinter uns. Ein Riesenschritt!“ Für Januar ist das zweite Treffen mit dem neuen Degeto-Chef Thomas Schreiber terminiert. Es dürfte für ihn kein Zuckerschlecken werden.

Dass in der Produzentenschaft die große Sorge umgeht, weil die Autorenschaft am liebsten direkt mit den Sendern oder Streamern sprechen will, kann Annette Hess verstehen. Aber ihr geht es „an erster Stelle um Geschichten und wie diese bei den Zuschauer*innen ankommen“. Verlierer im Verteilungskampf fürchtet sie nicht. Das in Produktionen gesteckte Umsatzvolumen sei noch nie so groß gewesen: „Es ist genug Kuchen für alle da. Niemand muss darben.“

Wirklich niemand?

Voraussichtlich zur Berlinale will Annette Hess mit Mitstreiterin Kristin Derfler eine privat in Auftrag gegebene Studie über das Geschlechterverhältnis bei der Förderung von Serien präsentieren. Schon jetzt zeichne sich ab, dass das „ein gruseliges Ergebnis“ wird – für die Frauen. Aber bis dahin jettet Annette Hess noch aus anderem Grund immer wieder von Coppenbrügge nach Berlin, zum Theater des Westens. Dort soll sich am 28. November der Vorhang für „Ku’damm 56 – Das Musical“ heben. Aus 360 Seiten Drehbuch fertigte sie ein Libretto. Und wie beim Film ist ihr wichtig: bei Leseproben dabei sein, wenn nötig, hier und dort am Text verändern, was 2021 nicht mehr zeitgemäß ist.

Auf dem Kölner Filmfest übrigens hat Annette Hess, als sie dann mal wieder online war, ihrem Zorn über die Kritik an ihrer Amazon-Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ freien Lauf gelassen. Mitnichten hätten sie und Produzent Oliver Berben den Stoff, den vor 40 Jahren Uli Edel verfilmte, „ausgeschlachtet“. Unverständlich auch für sie der Shitstorm, weil die Mutter von Christiane F. einmal Sneaker trug, die es in den 1970ern noch gar nicht gab. Du meine Güte, als ob korrektes Schuhwerk in dieser Story über die Dysfunktionalität einer Familie die Hauptrolle spielt!

Wobei, selbst gut austeilen, das kann Annette Hess sehr wohl auch. Auf den Kopf hat sie Uli Edel gesagt, wie schlecht sie seinen Film fand, weil er die besten Sachen rausließ. Was man so hört, hat er es ihr, der Queen der deutschen High-End-Serie, nicht all zu übelgenommen.