Eine Medienmarke wie "Bild" polarisiert, eine Führungsperson wie Julian Reichelt ebenso. Als am Montagabend um 18 Uhr der sofortige Rauswurf des "Bild"-Chefredakteurs vom Unternehmen bestätigt wurde, war das mediale Thema des Abends gesetzt. Beim "Spiegel" erschienen dann wenige Stunden später auch einige der Recherchen, die das Investigativ-Team aus dem Hause Ippen nicht dort veröffentlichen durfte. Ohne sein in weiteren Details dargelegtes Fehlverhalten marginalisieren zu wollen, ist der gefeuerte Bild-Chef aber eigentlich nur die Randfigur in diesem international beachteten Drama namens "Reichelts Werk und Döpfners Beitrag".

Dass Ben Smith für die "New York Times" ein so intensives Sittengemälde eines deutschen Medienhauses zeichnet, hat schließlich weniger mit dem Interesse an der Personalie Julian Reichelt zu tun. Was interessiert die USA schon die "Bild"-Chefredaktion. Aus amerikanischer Sicht geht es um das deutsche Unternehmen Axel Springer, das mit Zukäufen unter der Expansionsstrategie von CEO Mathias Döpfner in den USA so gerne eine Größe im digitalen Publishing-Geschäft werden würde und als neuer Player beäugt wird. Des Pudels Kern der starken Geschichte von Smith ist Döpfner. Es geht um das Bild eines Medienhauses und seines Vorstandsvorsitzenden, der so einen wie Reichelt gewähren ließ. 

Ein Reichelt schwurbelt selten allein

Smith berichtet in seinem lesenswerten Stück von Textnachrichten zwischen Döpfner und Benjamin von Stuckrad-Barre. Demnach schrieb der Vorstandsvorsitzende von Axel Springer über seinen "Bild"-Chefredakteur wörtlich (wie Smith am Montag auf deutsch noch nachgereicht hat): "Er ist halt wirklich der letzte und einzige Journalist in Deutschland der noch mutig gegen dan neuen DDR Obrigkeitsstaat aufbegehrt. Fast alle anderen sind zu Propaganda Assistenten geworden." Julian Reichelt, der letzte Kämpfer gegen einen neuen autoritären DDR-Staat? Wissend darum, wie oft diese Tonalität sich dann in den folgenden Monaten in der Berichterstattung von "Bild" niederschlug, war das kein zufälliger Gag, sondern Kurs des Hauses.

Man fragt sich schon: Teilen eigentlich die Mitglieder des Bundesverbandes der Digitalpublisher und Zeitungsverleger diese Einschätzung ihres 2020 gerade erst einstimmig (!) wiedergewählten Vorsitzenden Mathias Döpfner? Deutschland, ein autoritärer DDR-Staat? Also jetzt ernsthaft? Und passt dieser von der "New York Times" aufgedeckte und - freundlich formuliert - halbherzige Umgang Döpfners mit der Aufklärung von Vorwürfen des Machtmissbrauchs am Arbeitsplatz eigentlich zu seinem Posten im Bord of Directors bei Netflix, wozu er 2018 berufen wurde?

Ein Blick in die vergangenen Jahre zeigt: Das Fell ist dick. Kritik an Döpfner persönlich oder den Aktivitäten von Springer findet kaum Raum, wenn nicht mal als Titelgeschichte beim "Spiegel". Warum, demonstrierte Altverleger Dirk Ippen bei der Verhinderung der Veröffentlichung von Recherchen des eigenen Investigativteams sehr eindrucksvoll: Unter Verlegern, da hält man zueinander. In einer alten Medienwelt hätte das auch funktioniert, weil einst wenige Verlage die Gate Keeper waren und entscheiden konnten, was wichtig ist.

Empören statt stillschweigend dulden

Aber Moment. Wirklich nur in der alten Medienwelt? Zuerst veröffentlicht wurden die neuen Erkenntnisse aus dem Tollhaus Axel Springer auch 2021 ja eben nicht aus Deutschland heraus, sondern von der "New York Times" - weil in Good Old Germany eben tatsächlich immer noch Gefolgschaft den journalistischen Ethos aussticht? Publizist Wolfgang Blau fragte auf Twitter am Montagabend zu recht: "Was sagt es eigentlich über die europäische Medienöffentlichkeit aus (und den deutschen Medienjournalismus ohnehin), dass die beste Chance, eine bereits verhinderte Geschichte doch noch live zu kriegen, darin besteht, sie der New York Times zu geben?"

Ein trauriger Umstand, der sich an der Person Döpfner aber schon über viele Jahre beobachten lässt. Der Springer-CEO und Verbandspräsident durfte schon die unsäglichsten Behauptungen aufstellen, absurde Vergleiche bemühen ("Hehlerbande" Google), bewusste Falschmeldungen verbreiten (Von Muslimen verbotene Bockwurst im Freibad) oder wissentlich die Unwahrheit sagen - und selten wurde das thematisiert. Kaum jemand regte sich auf. Einst etwa bei der Diskussion um das Leistungsschutzrecht, mit dem die Verlage ans Geld von Google wollten.

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"Lügen fürs Leistungsschutzrecht" betitelte Stefan Niggemeier einst mehrere Blogeinträge, später auch Übermedien-Artikel. Ein DWDL.de-Kommentar hatte die Überschrift "Die Sorge vor einem Kartell der Propaganda". Gemeint war der Umstand, dass im öffentlichen Diskurs einer medienpolitischen Debatte die publizierte Meinung weitgehend von wenigen Verlagen bestimmt wurde, die unter dem Deckmantel von Medienjournalismus beim Thema Leistungsschutzrecht teils unverhohlen die eigenen Unternehmensinteressen propagierten. Wortreich erteilten sich die Verlage selbst die Absolution für ihre Forderungen.

Protest kam damals lautstark aus dem Netz, doch kaum zum Beispiel von den etablierten, den Printmedien näher stehenden Branchendiensten. Nicht damals und auch nicht in den Jahren danach. Eine hartnäckige Beschäftigung mit fragwürdigen Auswüchsen der Branche, wie es einst aus dem Netz heraus auch dank DWDL beispielsweise bei der Call-In-Plage im TV-Geschäft geschah, fehlt im Printgeschäft. Ob es Döpfners Reden bei "BDZV"-Treffen sind, die immer wieder mit Populismus auffallen, etwa als er sich 2017 der AfD-Rhetorik bediente und ARD und ZDF als "Staatspresse" betitelte oder die stillschweigende Akzeptanz, mit der eine ganze Branche so tut, als würden nicht mehrere Häuser mit ihren Yellow-Press-Titeln lupenreine Fake News produzieren - und das schon seit Jahrzehnten.

Wenn Naidoo im TV schwurbelt, fliegt er raus. Und Döpfner?

Bemerkenswert ist noch eine höfliche Formulierung für das blinde Auge, das einige Branchenbeobachter auf manche Verfehlungen im Verlagsgeschäft haben. Es muss aber thematisiert und diskutiert werden, wenn der oberste Verleger Deutschlands, der sich in Festtagsreden gerne unter Applaus anderer Verleger und Verlegerinnen zum Hüter des einzig wahren Journalismus aufschwingt, hausinterne Ermittlungen nach schweren Vorwürfen gegen seinen "Bild"-Chef zu bremsen scheint, weil er in ihm die letzte Chance gegen einen neuen autoritären DDR-Staat sieht? Wenn Xavier Naidoo im Fernsehen schwurbelt bei "DSDS", dann fliegt er raus. Wo liegt die Messlatte für Mathias Döpfner?

Nein, es sind nicht die persönlichen Verfehlungen des Julian Reichelt, die ein Thema für den deutschen Medienjournalismus sind, weil es hier um ein juristisches Thema geht. Machtmissbrauch ist kein Kavaliersdelikt und ein Problem leider auch in anderen Branchen. Das berichtete Fehlverhalten ist untragbar. Bei den zweifelhaften Aussagen des Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner wiederum besteht Anlass zur Sorge, dass diese einmal mehr ignoriert werden. Der Kapitän lässt den für ihn wichtigsten Mann über die Planke laufen und alle grölen vor Freude über das Spektakel.

Dabei sollte man nicht vergessen, wer auf dem Schiff das Sagen hat. 

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