Die Sitten der Vorzeit, sie waren zumindest nördlich vom Limes ganz schön unzivilisiert. Vor 2012 Jahren befehligen grausame Götter grobschlächtige Bauern ohne Bildung, Schrift, Kultur. Übers germanische Dasein bis hin zur Sprache ist daher nichts überliefert, aber gut – wen schert schon die Geschichte, wenn ihre Inszenierung so anziehend wirkt. In der Netflix-Serie "Barbaren" also trifft ein römischer Feldherr auf germanische Titelfiguren. "Du hast dich echt verändert", begrüßen sie ihn nach jahrelanger Trennung. "Wer nicht", entgegnet er sechs Folgen vor seiner berühmten Varusschlacht und fügt "ich heiße jetzt Arminius" hinzu.

Noch etwas virtuoser Smalltalk dreier entzweiter Jugendfreunde über politische Differenzen 9 nach Christus mit freiem Blick aufs Zahnarztlächeln – fertig ist eine Art Historytainment, das alles in sechs Episoden packt, was deutsche Serien momentan so erfolgreich macht. Und so bedenklich. Ende vorigen Jahres nämlich war "Barbaren" ein Welterfolg. In fast 100 Ländern eroberte die Fantasy-Version des nationalen Erweckungsmythos Top-10-Plätze der meistgesehenen Netflix-Formate. Allenfalls "Dark", gewissermaßen die Mystery-Variante der "Lindenstraße", war abzüglich statistischer Unwägbarkeiten eines Streamingdienstes ohne seriöse Öffentlichkeitsarbeit, womöglich noch reichweitenstärker.

Womit kurz vorm 22. Deutschen Fernsehpreis abermals bewiesen wäre: wenn hiesige Fiktion international laufen will, käut sie im Zweifel unsere Vergangenheit wieder, orientiert sich dafür aber nicht unbedingt am akademischen Forschungsstand, sondern eher – nun ja, am arithmetischen. Und der besagt: Alles mit deutscher Geschichte geht immer, am besten Nazis oder Stasis. Die Sky-Adaption von Wolfang Petersens "Das Boot" zum Beispiel brauchte in bisher zwei Staffeln kaum mehr als eine Handvoll SS-Schergen im Umfeld argloser Soldaten und anderer Widerstandskämpfer, aus denen das Tätervolk auf Bildschirm und Leinwand seit jeher zu bestehen schien.

Selbst in den USA kam das Kriegsmelodram gut an und sicherte ihm damit einen Platz in der zweiten Reihe hinterm Primus inter pares: "Babylon Berlin". Eine Serie "wie Cabaret auf Koks" urteilte das US-Radionetzwerk NPR über den feuchtfröhlichen Kollaps der Weimarer Republik – produziert von Sky, flankiert von ARD, realisiert von X-Filme, vertrieben von Beta, und zwar in gut 100 Länder, also mehr als Nico Hofmanns Weltkriegsdreiteiler "Unsere Mütter, unsere Väter", den die BBC 2013 untertitelt in der Primetime zeigte.

Es ist also ein Irrtum, hiesiges Fernsehen könne erst im aktuellen Boom horizontal erzählter Langzeitfiktionen global mithalten. "Türkisch für Anfänger" zeigt Ausländern, wie ulkig das Einwanderungsland Migration verarbeitet. Inspektor "Derrick" ermittelt bis Kuba und Tierkollege "Kommissar Rex", schwärmt Beta-Geschäftsführer Dirk Schürhoff von seinem Exportschlager, "wurde sogar chinesisch synchronisiert". Nicht schlecht schon mal. Mittlerweile aber seien deutsche Serien nicht nur quantitativ, sondern qualitativ so hochwertig, "dass sie im internationalen Wettbewerb auch gegen englischsprachiges Programm bestehen".

Besonders, wenn sie die Welt früh im Blick haben. Etwa, wie Maria Schraders jüdisches Empowerment-Meisterwerk "Unorthodox" oder Christian Schwochows Finanzmarktthriller "Bad Banks": beide explizit im Präsens statt Perfekt, beide praktisch frei von Polizisten, beide in ihrer Erzählstruktur auf einem Niveau, das selbst der Wegbereiter HBO selten erreicht. Wer dann noch dramaturgische Prachtexemplare von "Das Verschwinden" bis "Der Pass" betrachtet, könnte deutsches Fernsehen glatt zurück auf dem Weg in die Zwischenkriegszeit wähnen, als deutsches Kino selbst Hollywood ein Stück weit voraus war.

Könnte. Konjunktiv. Denn die gut geölte Serienmaschinerie des Exportweltmeisters weist erste Sollbruchstellen auf. Ausgerechnet Chefkonstrukteur Hofmann, seit seinem Ost-West-Melodram "Der Tunnel" vor 20 Jahren der Mehrteiler-König von Ufa und teamworx, räumt gegenüber DWDL ein, dass "der Mut zum horizontalen Erzählen schwächer geworden sei". Statt fortlaufender Serien mit offenem Ende würden "mehr denn je episodisch abgeschlossene Folgen in 6er bis 8er Konfiguration à 45 Minuten" gesucht. Anders ausgedrückt: Deutsche Serien sind zusehends als Sechsteiler getarnte Dreiteiler in Doppelfolgen.

Davon zeugen nicht zuletzt Ausstattungsorgien früherer Epochen, die ihr betriebswirtschaftliches Kalkül oft schon im Titel tragen: "Deutschland 83-89", "Ku’damm 53-63", "Charité" (1888-1961) – alle höchst erfolgreich, alle inhaltlich verkapselt, also alles andere als luftdurchlässig, wie es das neue Kino Fernsehen seit den "Sopranos" oder "Six Feet Under" zur Perfektion getrieben hatte. Daran knüpfte hierzulande 2007 die Cop-Serie "KDD" an, bevor sie das ZDF mangels Quote im Spätprogramm verklappt und nach der dritten Staffel abgesetzt hatte – ein Schicksal, dass drei Jahre später auch Dominik Grafs hochgelobtem Bandendrama "Im Angesicht des Verbrechens" widerfuhr.

Vielleicht wurde die Messlatte schon damals tiefer gelegt, vielleicht aber auch erst im Kampf mit schier unbesiegbarer Konkurrenz. "Angesichts der Millionenbudgets hinter jeder Netflix-Dokumentation, von fiktionalen Serien ganz zu schweigen", meint Christine Strobl, "bereiten uns Zusammenschlüsse großer amerikanischer Konzerne schon Sorge." AT&T kauft TimeWarner, Disney kauft FOX, Amazon kauft MGM – solche Entertainment-Cluster treiben die Kosten für deutsche Produzenten aus Sicht der neuen ARD-Programmdirektorin ins Unermessliche, ergo schwer Finanzierbare.

Kooperationen wie jene im Fall von "Babylon Berlin" würden zwar helfen, "deutsche Geschichte aus unserer Sicht zu erzählen und in die Welt zu tragen". Doch das, mahnte Christoph Palmer als Geschäftsführer der heimischen Produzentenallianz kürzlich im "Tagesspiegel", würde "tendenziell eher eine Ausnahme bleiben". Grund: die Nachfrage nach Highend-Serien führe zum Anstieg der Herstellungsausgaben, die bei national üblichen Budgets auch in Kooperation oft zu hoch sind.

Da bleibt der Serienschuster bei seinen Fernsehleisten und denkt nicht bigger, sondern smaller, also deutscher, also kriminalistischer, juristischer, medizinischer, seit kurzem zudem: mysteriöser. Beachtliche Produktionen wie "4 Blocks" haben daher wie der weibliche TNT-Ableger "Para" zwar Verbrecher im Ghetto gejagt. Ähnlich gelungene Krimiserien wie "Unbroken" (Neo) "8 Zeugen" (Now, März) oder zuletzt "Am Anschlag" (Neo) waren allerdings oft viereinhalbstündige Mehrteiler, die – um mit Nico Hofmann zu reden – "für den internationalen Verkauf halbiert" wurden.

Und der Rest? Oft ansehnlich, leicht zu übersehen. Während Vox experimentelles Entertainment wie "Club der roten Bänder" durch banale Spin-Offs wie "Tonys Welt" am Leben erhält und andere im Zweifel lieber Jürgen Vogel durch selbstreferenzielle Action à la "The Team" oder "Blochin" jagen, als Wagnisse wie David Schalkos Dada-Satire "Ich und die anderen" einzugehen, verschwindet das Gros gutgemachter German-Budget-Formate wie einst der legendäre "Tatortreiniger" in den Weiten von Web oder Dritten.

Das ereignislose RBB- Ereignis "Warten aufn Bus" zum Beispiel oder die anrührende Witwer-Sadcom "Mapa", Nora Tschirners Depressionsgroteske "The Mopes" und glaubhafte Diversität von "All You Need" (schwul) bis "Loving Her" (lesbisch), von den vielen pandemiebedingten Heimvideos wie "Drinnen" ganz zu schweigen: vieles ganz wunderbar, aber wo genau noch mal gelaufen? Jedenfalls auf kleinerem Flatscreen als "Tribes of Europa" – starbesetztes Fantasy-Machwerk von Netflix mit viel Form, aber kaum Inhalt, verteilt auf sechs Folgen à 45 Minuten. Summa summarum ein Dreiteiler also. Merkt vielleicht keiner. Ach ja: und "Barbaren" wird fortgesetzt. Trotz gewonnener Varusschlacht und historischem Datenmangel nahe Null, dafür mit zeitgenössischen Hipstern in Fell, statt Jeans. Sehr sexy.