„…84. Minute…sechs Minuten noch im Wankdorf-Stadion in Bern, keiner wankt, der Regen prasselt unaufhörlich hernieder…“ 

Jeder, der sich nur ein wenig mit Fußball auskennt und sich schon mal die legendäre Geschichte vom ersten WM-Sieg der Deutschen am 4. Juli 1954 erzählen ließ, vielleicht auch Sönke Wortmanns „Das Wunder von Bern“ sah, hat diese Worte schon mal gehört, hat diese Stimme im Ohr: Herbert Zimmermann kommentierte das Endspiel zwischen Ungarn und Deutschland, neun Jahre nach Kriegsende, an der WM 1950 hatten die Deutschen als Anstifter des Krieges nicht teilnehmen dürfen. 

Die später Geborenen haben diese Worte nie im Radio gehört, sie hörten Herbert Zimmermann zu den Fernsehbildern, alles schwarzweiß und pitschnass, Spieler, Zuschauer, Rasen, die Lederkugel. Sie mussten annehmen, Zimmermann sei der Fernsehkommentator gewesen. Das ist bis heute das Dilemma der RadioreporterInnen: sie erzeugen Bilder in den Köpfen der Hörer, aktivieren die Phantasie des Publikums, reden, beschreiben, immer mit den Augen auf dem Platz, erzeugen bei den Fans, die aus der Ferne zuhören, Nervenkitzel, Hochspannung, Freude, Niedergeschlagenheit, aber berühmt und populär sind nicht sie, sondern eher die Kommentatoren des Fernsehens, Béla Réthy, Marcel Reif oder Steffen Simon. 

…es ist schwer, aber die Zuschauer, sie harren aus… jetzt Deutschland am linken Flügel durch Schäfer… 

Bei fast allen Zukunftsvisionen für Audio geht es meist um die sogenannten „zeitautonom“ in Audiotheken oder Streamingportalen abrufbaren „Produkte“, Hörspiele, Podcasts, Features, Dokus, Interviews, Comedy. Nicht länger für Sendetermine zu produzieren, sondern für die On-Demand-Nutzung, ist eine große Chance auf mehr Publikum, auf mehr Resonanz und Relevanz von Wortproduktionen.    

Bei den Live-Medien bleibt das klassische Radio klar im Vorteil. Kein Mensch will Nachrichten, Falschfahrer, Staus oder Uhrzeiten einen Tag oder auch nur eine Stunde später hören. Das UKW-Live-Radio ist das wichtigste Spielfeld für die Sportreportage. Noch, denn im Digitalen entwickeln sich – langsam aber stetig - neue Hörgewohnheiten, die wohl auch Auswirkungen auf das klassische Radio haben werden. 

… Schäfers Zuspiel zu Morlock wird von den Ungarn abgewehrt…und Bozsik, immer wieder Bozsik, der rechte Läufer der Ungarn am Ball...

Digitales Sportradio (über Web, Mobile oder DAB) ist nichts Neues, mit Sport ist vor allem Fußball gemeint. Die Audiorechte wurden von der DFL (Deutsche Fußball-Liga) nacheinander an 90elf, Sport1-FM, Amazon und jetzt an die ARD vergeben (Sportschau). Allerdings ist bis heute juristisch nicht final geklärt, ob es überhaupt Audiorechte gibt. Im Radio oder im digitalen Audio wird ein Fußballspiel ja nicht gezeigt wie beim Fernsehen, sondern das Spiel wird von ReporterInnen beschrieben. Der Privatsender Radio Hamburg ging für das Recht auf freie Berichterstattung vor Gericht, es brachte keine Klärung hinsichtlich der grundsätzlichen Audiorechte-Frage, aber seither müssen Sender für die Bereitstellung von Reporter- und Ü-Wagenplätzen, Security usw. eine „Kostenerstattung“ zahlen. Deshalb werden Audiorechte in der Regel nicht exklusiv an bestimmte Sender vergeben, sondern – wie bei Print- und Online-Medien üblich – berichten konkurrierende Radiosender über ein und dasselbe Spiel. 

Man kann ausdauernd darüber streiten, wem das Recht an der Beschreibung eines Fußballspiels gehört. Denen, die die Spielsituation auf dem Platz erschaffen oder denen, die sie beschreiben. Oder vielleicht sogar beiden. Wem gehören die Rechte, wenn ein Reporter sich bei einem dramatischen Spiel vor Aufregung auf die Lippen beißt und sagt: „Ich hoffe, ich habe Lippencreme im Auto…“, wenn ein lahmer Torschuss zu einem „flauen Darmwind“ mutiert, ein kläglich vergebener Elfmeter ein „Problem im Kopf“ war, dem Ball gleich „schlecht wird vom ewigen Hin- und Hergeschiebe“? Wem gehören Sätze wie der von Fußballreporter-Legende Manni Breuckmann („Holt die Antidepressiva raus, Fortuna Düsseldorf spielt“) oder Edi Fingers weit über die Außenlinien hinausragende Reportage: Eine Möglichkeit der Deutschen!…und?…Daneeeben!…Also der Abraaamczik…abbusseln möcht i den Abramczik dafür. Aus deutscher Sicht eine vergiftete Mozartkugel, die Deutschen spielten bei der sogenannten „Schmach von Cordoba“ (WM 1978 in Argentinien) gegen Österreich 2:3 und der Schalker Rüdiger Abramczik brachte das Leder nicht ins Tor. 

Manch einer legt(e) aus Begeisterung für die Arbeit der RadioreporterInnen auch den Radio-Ton unter die Fernsehbilder, was allerdings – je nach digitalem Übertragungsweg – nicht immer synchron möglich ist. 

…Boszik hat den Ball…verloren diesmal, gegen Schäfer . . . Schäfer nach innen geflankt…

Mit der neuen Saison bietet die ARD von allen Bundesligaspielen neben kurzen Reportagen in den Radiowellen auf UKW in der Sportschau-App Vollreportagen sowie samstags (wenn vier oder mehr Spiele parallel laufen) eine Schaltkonferenz an und zielt damit auf Fußballfans, denen Pay-TV zu teuer und zu unübersichtlich ist und die mit einem einfachen Klick aufs Smartphone hören wollen, wie es um ihren Klub steht. 

Die Fußball-Live-Reportage gilt als Königsdisziplin unter RadioreporterInnen, vor allem wenn es über 90 Minuten geht. Wer zur Identifikation der Spieler erst Rückennummern lesen muss, hat schon verloren. Auch, wem die Worte ausgehen, nach einer alten Radioweisheit gibt es ja im Radio nichts Schlimmeres als die Stille. Für die ReporterInnen dauert das Spiel genauso lang wie für die Spieler, auch sie brauchen Luft für 90 Minuten (Stephan Kaußen, ARD-Reporter), dürfen sich nicht schon in der ersten Halbzeit verausgaben, müssen im entscheidenden Moment in den Sprint gehen, die Stimme erheben, Emotionen zeigen, schneller sprechen, wenn der Angriff läuft, das Dribbling, die Grätsche, die Flanke und dann Tor, Tor, Tor rufen. Und man sollte ihnen nachsehen, wenn nach 90 Minuten auch mal was daneben geht: 

Bayern schlägt den SC Paderborn nur knapp mit 3:3 oder Ich weiß gar nicht, was ich sonst noch zu diesem Spiel sagen soll - das schlägt dem Fass sozusagen die Krone ins Gesicht

Die Vorbereitung auf ein Spiel beginnt nicht erst im Stadion, die ReporterInnen haben Dossiers über die Form von Spielern, Aussagen von Trainern, Statistiken, Fakten, die sie einstreuen können, wenn der Ball nur hin- und hergeschoben wird oder ein Spieler auf dem Feld behandelt werden muss. Langweilige Spiele zu beschönigen ist verpönt, die ReporterInnen sollen ein Spiel nicht besser machen als es ist, neutral bleiben, ohne aber selbst zu langweilen, bei der digitalen Vollreportage können sie auch nicht „und damit zurück ins Funkhaus“ rufen, falls das Gekicke auf dem Platz zu öde ist. 

…Kopfball…abgewehrt…aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen…

Und dann ist da auch noch das Fan-Radio, ebenfalls verbreitet im Netz, betrieben von vielen Klubs bis hinunter in die Amateurligen. Hier ist Neutralität nicht angesagt, bei den Fan-Radios ist jeder ein Fan, der Reporter und das Publikum „draußen an den Smartphones“. Keine auf journalistische Reputation bedachte Redaktion stört sich daran, wenn das vereinseigene Reporter-Duo Boris Rupert und Norbert Dickel von Borussia Dortmund etwa über den Schiedsrichter sagt: „Abseits? Das war Ecke, Du Blindfisch, das kann doch nicht wahr sein!“ 

Ob subjektiv oder objektiv: die SportreporterInnen, die bei Hitze, Regen, Schnee und Kälte im Stadion sitzen, mit dem Duft der Currywurst in der Nase und den Anfeuerungsrufen, den You´ll never walk alone-Gesängen und Kollektivstöhnern des Publikums auf den Kopfhörern, sind fokussiert auf das, was den Fußball trotz der Milliarden, die im Spiel sind, überhaupt noch am Leben hält: sie übertragen Emotionen, sie machen die hundertprozentige Identifikation der Fans hörbar, sie betrachten das Spiel aus der Perspektive der Fans, sie ergreifen nicht Partei für einen Klub, sondern für einen Sport, der zwar durch und durch kommerzialisiert ist, in Deutschland aber immer noch die Herzen von Millionen bewegt, die Liebe zu ihrem Verein ist für viele ein Licht, eine Ablenkung in einem vielleicht grauen Alltag. 

Das Fernsehen kann „nur zeigen“, was auf dem Spielfeld passiert, die schreibenden Journalisten können „nur nacherzählen“, was die Hörer hören, den lauter und schneller sprechenden Reporter, wenn Haaland abzieht und die Kugel im Netz versenkt, sich die Südtribüne zum Torschrei reckt und der Reporter „Tor, Tor in Dortmund“ in die Bundesliga-Konferenz ruft, „das ist Adrenalin pur“ (Holger Dahl, ARD-Reporter). 

Rahn schießt . . . Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tor für Deutschland! Linksschuss von Rahn…3 : 2 führt Deutschland fünf Minuten vor dem Spielende. Halten Sie mich für verrückt, halten Sie mich für übergeschnappt!

Welche Rolle Audio in der digitalen Zukunft spielen wird, ist schwer einzuschätzen, es hängt unter anderem auch davon ab, wer die Verwertungsrechte hält, ob die Fans das Audioangebot in ausreichender Zahl wahrnehmen und sich Live-Events als digitale Audio-Produkte durchsetzen können, wie sich das Image des Profi-Fußballs generell entwickelt. Unklar auch, auf welche Weise Audio-Streamer künftig mitspielen werden, die bekanntlich ein herausragendes Interesse daran haben, möglichst alles, was Menschen hören wollen, auch auf ihrer Plattform anzubieten, um das Publikum so lange wie möglich an sich zu binden. 

Aus!...Aus!...Aus!...Aus!...Das Spiel ist aus...Deutschland ist Weltmeister!