Vertrauen ist ein Lebenselixier. Kleine Kinder benötigen es mindestens so nötig wie Nahrung und Wärme, größeren dient es zur freien Entfaltung von Edelmut und Empathie, Erwachsenen als Leitplanke einer gottlosen Welt voller Konkurrenten. Ohne die Gewissheit, bedingungslos auf sich und andere zählen zu können, macht der Zweifel uns mürbe, manipulierbar, zerbrechlich. Kein Wunder, dass die Kernkompetenz aller Diktaturen darin besteht, jedes Vertrauen zu zerstören und damit noch nicht mal hinterm Berg zu halten.

Als die tschechoslowakische Staatssicherheit zum Auftakt einer neuen HBO-Europe-Serie im Kalten Kriegswinter 1977 die Wohnung des regimekritischen Wissenschaftlers Viktor Skala verwanzt, pisst ihm der Eindringling deshalb auch noch seelenruhig aufs Bett und drapiert einen Sack sinnlos zerdepperten Porzellans im Flur. Es sind zwei Abschiedsgeschenke mit Wirkung! Kurz darauf nämlich sitzt derselbe Dissident im Warmen Wendesommer 1989 am Esstisch seines englischen Exils und verfolgt die Auflösungserscheinungen der zurückgelassenen Heimat gemeinsam mit Ehefrau Marie am Fernseher.

Nach einer Welle weiterer Einschüchterungen, so schildert es der beachtliche Sechsteiler „Die Schläfer“ ab heute in Dreifachfolgen auf Arte, hatten die zwei Intellektuellen zwölf Jahre zuvor fluchtartig sein Land verlassen, um jenseits des eisernen Vorhangs von vorne anzufangen – ohne Repressionen, dafür mit hartnäckigem Heimweh, das während der samtenen Revolution neue Nahrung erhält. Inspiriert von den legendären Westbildern ostdeutscher Botschaftsflüchtlinge in Prag, überredet die Geigerin den Forscher folglich, besuchsweise heimzukehren. Aus Sehnsucht so scheint es – womit wir beim Thema Vertrauen sind.

Nach anfänglicher Skepsis nämlich wird Viktor durch einen geheimnisvollen Brief in die politisch aufgeheizte CSSR gelockt, der – nachdem er ihn verbrannt hat – eine Kettenreaktion folgenschwerer Ereignisse nach sich zieht. Kaum angekommen, werden beide von einem Auto angefahren und liegengelassen. Während Marie im Krankenhaus liegt, fehlt von Viktor jede Spur. Auf der der Suche nach ihm, gerät sie zwischen die Fronten von Tyrannei und Widerstand, an denen absolut niemandem zu trauen ist – schon gar nicht angeblich Vertrauten.

So geht es halt zu im „Paranoia-Thriller“ – ein kleines Fach im großen Schrank fiktionaler Angstzustände, das laut „Lexikon des internationalen Films“ gezielt die „Ohnmachtsgefühle des Individuums in einer Welt sozialer wie politischer Krisen und Bedrohungsszenarien in Form umfassender Verschwörungen und globaler Gut-Böse-Konstellationen dramatisiert“. Bei ihrer Fahndung nach Viktor (Martin Mysicka), landet Marie (Tatiana Pauhofova) also zügig im Fadenkreuz sinistrer Mächte, allen voran Stasi-Oberst Vlach (Jan Vlasák) und sein Assistent Berg (Martin Hofmann), die mal mit, meist gegeneinander ihre kollegiale Rivalität zu KGB und britischer Botschaft pflegen.

Die Serie - und darin ähnelt sie dem stilbildenden Verfolgungswahn von Alfred Hitchcocks „Der unsichtbare Dritte“ bis hin zu Eli Roths Torture Porn „Hostel“ - weidet sich fast genüsslich am Kontrollverlust ihrer Protagonisten. An jeder Ampel steht potenziell der Feind, hinter jeder Zeitung stecken Spione, selbst unter Verwandten streut das vermeintlich kommunistische, faktisch faschistoide Unrechtssystem des Warschauer Paktes so virtuos Zwietracht unter allen, dass sogar Maries Schwester (Lenka Vlaskova) zur Bedrohung wird.

Nach Ondrej Gabriels präzisem Drehbuch knüpfen Ivan Zacharias und Alice Nellis, die 2016 bereits bei der HBO-Serie „Wasteland“ Regie führten, ein so verstörendes Netzwerk des Misstrauens, dass man schon beim Zusehen die Lust am Lebenselixier Verlässlichkeit verliert. „Die haben immer noch Angst vor uns“, sagt Berg nach einer brutalen Razzia bei Oppositionellen, „dabei haben wir Angst vor ihnen“. Diese Furchtverschiebung prägt beinahe jede der 300 Minuten, in denen es die Showrunner obendrein kunstvoll vermeiden, handelsübliche Klischees von Objekten und Subjekten aufzubrühen.

Statt die realsozialistische Tristesse der Siebziger- bis Achtzigerjahre in staubig graues Ocker zu tauchen und mit Leichenbittermienen zu überzeichnen, arbeiten Zacharias und Nellis lieber mit Lichteffekten einer kollabierenden Gesellschaft im Morgengrauen, die das Hintergrundrauschen von Petr Malaseks eindrücklicher Filmmusik noch etwas depressiver macht. Plakative Kulissen und Kostüme sind dabei ebenso unnötig wie überzählige Attraktivität der Hauptdarstellerin, die das deutsche Historytainment zwanghaft verschönert hätte. Hier sehen sämtliche Seriencharaktere dagegen aus, wie Normalsterbliche im Griff einer autoritären Umgebung nun mal aussehen: gewöhnlich, aber nicht wie Strafgefangene.

Bei der Hetzjagd nach ihrem Mann schimmert gelegentlich zwar ein wenig viel Bruce Willis aus der zarten Geigerin Marie Skalova. Doch wie sie nach und nach mehr an Leib und Seele verletzt feindliche Linien durchdringt, das erzählt trotz ihrer agententhrillertauglichen Heroisierung auch davon, wie Misstrauen Menschen zersetzt und mittlerweile ja – Stichwort Russland, Polen, Ungarn – auch wieder osteuropäische Gesellschaften. In Zeiten, da die vermeintliche Alternative für Deutschland ungeniert tschechoslowakische Verhältnisse herbeipöbeln will, macht all dies „Die Schläfer“ zu einer nostalgischen, aber hochaktuellen und dabei dezent packenden Serie.

Arte zeigt die sechsteilige Serie "Die Schläfer" am Donnerstag, 19.8. und 26.8. jeweils in Dreierpacks ab 21:45 Uhr. Alle Folgen stehen auch bereits in der Arte-Mediathek online.