Ein First-Look-Deal mit John de Mols neuer TV-Schmiede Talpa Concepts sichert der Seven.One Entertainment Group - also den Sendern Sat.1, ProSieben, Kabel Eins und Co. - Erstzugriffsrecht auf neue Formatentwicklungen und -lizenzierungen. Talpa Concepts wurde von John de Mol im vergangenen Jahr als neue Entwicklungseinheit gegründet nachdem er zuvor Talpa Media in einem Milliarden-Deal an ITV verkauft hatte. Der jetzt auf mehrere Jahre angelegte Vertrag umfasst auch die exklusiven Produktionsrechte in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sollte Seven.One Entertainment ein Format von Talpa Concepts nicht selbst on air bringen wollen und ein anderer Sender zuschlagen, sind die Unterföhringer trotzdem Produzent.

In den Niederlanden ist John de Mol neben Talpa Concepts auch mit den eigenen Sendern von Talpa Networks aktiv. Hier wurde im Juni bekannt, dass Talpa Network und RTL Nederland fusionieren wollen. Im Produktionsgeschäft sucht de Mol in Deutschland jetzt allerdings den Schulterschluss mit Seven.One Entertainment. Über diesen Deal, die Zukunft des Formatgeschäfts, die Genres Reality und Gameshows sowie die Notwendigkeit von Tempo sprachen Wolfgang Link, CEO der Seven.One Entertainment Group und Vorstand der ProSiebenSat.1 Media SE sowie John de Mol im Exklusiv-Interview mit DWDL.de.

Herr de Mol, Herr Link, auf das Formatjahrzehnt der 00er Jahre folgte ein Jahrzehnt des Serienhypes - und dann kam ein Überraschungserfolg wie „The Masked Singer“ und viel Reality. Stehen wir vor einer Renaissance des Formatgeschäfts?

John de Mol: Total. Zurückschauen ist natürlich immer leichter als nach vorne zu schauen, aber wenn mir zum Beispiel jemand sagt, die Zeit von Quizshows ist vorbei, weckt das bei mir den Ehrgeiz, eine ganz neue Art von Quizshow zu entwickeln. Meine Devise lautet: immer gegen den Strom schwimmen. Die Entwicklung, die wir gerade sehen, würde ich weniger über Genres definieren, sondern viel mehr als eine Rückbesinnung auf lokale Produktionen. Ob das Fiction- oder Non-Fiction-Formate sind, ist zunächst einmal egal. Aber wenn wir uns anschauen, wie viele Serien derzeit global produziert werden, stellt sich die Frage: Wie viele Serien soll ein Zuschauer noch schauen? Bei diesem Überangebot Alternativen zu bieten, bedeutete: Ich sehe Chancen für Entertainment - für neue Quizshows, Reality und Talentshows.

Wolfgang Link: Ich erinnere mich: Vor dem Start von „The Voice“ hieß es, Castingshows seien tot. Nach dem Erfolg von „The Voice“ hieß es dann, einen solchen Format-Hit werde es nie wieder geben – und dann kam „The Masked Singer“! Ich stimme John zu, wir befinden uns in einem Umbruch. Viele Menschen gucken ihre Serien bei den Streamingdiensten – und das erfordert auch den Willen, sehr viel Zeit zu investieren. Aber wo bleibt der andere Teil der Unterhaltung?  Wir erleben seit einigen Jahren eine unglaubliche Lust auf gute Reality, aber auch auf die großen ‚Shiny-Floor-Shows‘ in der Prime-Time, auf Dokumentationen und vieles mehr. Deshalb ist der Begriff der Renaissance für das Formatgeschäft durchaus zutreffend. 

 

"Ich habe immer den Witz gemacht, dass ich jederzeit für John vor dem Altar stehe für eine neue Partnerschaft."

Wolfgang Link

 

Lange wurde Streamingdiensten attestiert, sie würden sich auf Serien fokussieren, aber auch dort werden längst andere Genres besetzt. Gilt es also, Territorium zu verteidigen?

Wolfgang Link: Vorweg will ich betonen, dass unsere Sender auch heute schon gut aufgestellt sind und seit längerem das lokale Produkt dem Output-Deal mit Hollywood vorziehen. US-Programm wird weiterhin Teil unserer Programme bleiben, aber in deutlich reduzierterer Form als noch vor ein paar Jahren. Aber klar ist auch: Natürlich konkurrieren wir mit den Streamingdiensten um die Aufmerksamkeit unseres Publikums. Und dafür sind unique Formate, die es nur auf unseren Plattformen gibt, enorm wichtig. Aus diesem Grund gehen wir neue Partnerschaften wie jetzt mit Johns Entwicklungsschmiede Talpa Concepts ein. John und ich kennen uns seit zwölf Jahren, wir haben uns hier in diesem Büro zum ersten Mal getroffen – übrigens zusammen mit Kai Pflaume, der uns an diesem Tisch zusammengebracht hat. Unser erstes gemeinsames Projekt war dann „The Voice“ und ich kann mich noch gut daran erinnern – jetzt wird John wieder lachen! – dass ich später vor Freude geweint habe, als wir beim Kampf um das Format den Zuschlag bekommen haben. Für uns war damals ein weiterer Blockbuster-Hit neben unseren Raab-Events und GNTM immens wichtig. Entstanden ist dann in den folgenden Jahren ein toller Austausch mit tiefem Vertrauen und Wertschätzung. Ich habe immer den Witz gemacht, dass ich jederzeit für John vor dem Altar stehe für eine neue Partnerschaft. Und jetzt haben wir sie, die exklusive Zusammenarbeit.

John de Mol: Ich habe gerade angefangen zum dritten Mal in meinem Leben ein Unternehmen aufzubauen. Es gab erst Endemol, das ich verkauft habe. Dann gab es Talpa 1, das ich an ITV verkauft habe und vor anderthalb Jahren entstand Talpa 2. Aber eines wollte ich diesmal anders machen als früher: Ich hatte keine Lust mehr, in mehreren Ländern erst Firmen hoch zu ziehen und steuern zu müssen, bevor wir uns um Inhalte kümmern können. Deswegen wollen wir Partnerschaften schließen in allen wichtigen Ländern und auch nicht mehr zu viel Zeit verlieren mit kleineren Ländern. Der Aufbau einer Firma dort kostet genauso viel Zeit aber bringt weniger Reichweite. Und jetzt haben wir mit Seven.One Entertainment in Deutschland unsere zweite Partnerschaft geschlossen nachdem wir vor ein paar Wochen schon eine Partnerschaft in Frankreich eingegangen sind. In Holland habe ich natürlich eine ganz ideale Situation: Eine sehr gute Entwicklungsabteilung, eine sehr gute Produktion und vier Fernsehsender zur Verfügung, um alle Ideen, die wir haben, auch gleich zu testen. Dank der Zusammenarbeit mit Seven.One Entertainment können wir diese schnelle Umsetzung auch in Deutschland gewährleisten.

Geht es bei diesem Deal also ums Tempo für den internationalen Rollout neuer Formate?

John de Mol: Es geht immer noch schneller. Wenn ich an „Big Brother“ zurückdenke, dann hat es damals drei bis vier Jahre gedauert, um das Format in über fünfzig Länder zu verkaufen. Zehn Jahre später bei „The Voice“ hat es nur noch ein Jahr gedauert, um die Idee in mehr als 60 Länder zu verkaufen. Früher gab es ja die Fernsehmärkte in Cannes, aber wenn man dort noch darauf hofft, etwas angeboten zu bekommen, dann ist man inzwischen viel zu spät. Und der direkte Draht zwischen Talpa Concepts und Seven.One Entertainment erhöht das Tempo. Und wenn ein neues Format starke Quoten holt, klingelt bei uns sofort das Telefon.

Sie sprachen selbst Ihre niederländischen Aktivitäten an: Bei Talpa Networks gehen Sie mit RTL zusammen, bei Talpa Concept mit Seven.One Entertainment. Ist das Ihre Interpretation von Diversifizierung?

John de Mol: (lacht) Die Geschäfte sind ja voneinander getrennt. Talpa Concepts gehört mir zu 100 Prozent und so kann ich mich entscheiden, in Deutschland die Partnerschaft mit der Seven.One Entertainment und Wolfgang einzugehen.

 

"Ich kann kein Fernsehen verantworten, bei dem die teilnehmenden Menschen ausgelacht werden."

John de Mol

 

Als jemand, der mit „Big Brother“ als Erfinder des Realitygenres gilt: Was sind Ihre Gedanken zum Zustand des Genres, das zuletzt mit Exzessen auffiel?

John de Mol: Es gibt in diesem Genre die Gefahr, dass Grenzen überschritten werden und Menschen vorgeführt werden. Für mich persönlich gibt es für dieses Genre immer eine ganz einfache Orientierung: Bei der ersten Staffel der holländischen Fassung von „Nur die Liebe zählt“ hatten wir mal einen jungen Mann, der im Studio saß und sich ein Date mit einer Frau gewünscht hat, der er im Supermarkt begegnet ist. Als ich dann den Film gesehen habe, den wir gedreht haben, als wir die Frau im Supermarkt mit dieser Bitte überrascht haben und mir nochmal den jungen schüchternen Mann im Studio angeschaut habe, war mir klar: Das können wir nicht machen. Die Reaktion der Frau war wirklich sehr hart. Und ich habe befürchtet, dass der Junge damit nicht klarkommen wird. Da ist für mich die Grenze: Wer in meinen Shows mitmacht, muss am Tag nach der Ausstrahlung mit erhobenem Haupt aus dem Haus gehen können. Ich kann kein Fernsehen verantworten, bei dem die teilnehmenden Menschen ausgelacht werden. Aber das ist eine Grenze, die man im Einzelfall definieren muss und mit dem Charakter der Personen zu tun hat und mit der individuellen Verantwortung derer, die so etwas produzieren. Und leider gibt es in der Entwicklung von Reality-Fernsehen viele Beispiele, in denen diese Grenzen überschritten wurden.

Wolfgang Link: Ich sehe über Sender hinweg gerade aber auch die gute Entwicklung, dass dieses Pendel wieder umschwingt und wir uns darauf besinnen, dass diese Grenzen wieder eingehalten werden. Das ist eine sehr gesunde Entwicklung.

Aber so langweilig wie „Die Alm“ muss es dann trotzdem nicht sein...

John de Mol: (lacht) Genau.

Aber im Ernst: Herr Link, in welchem Genre würden Sie sich aus der neuen Zusammenarbeit mit John de Mol und seinem Team heraus als erstes ein neues Hitformat wünschen?

Wolfgang Link: Uns interessieren unterschiedliche Genres. Wir haben mit John bereits über ‚Shiny-Floor-Shows‘ gesprochen, aber wir wollen uns auch gemeinsam das Genre Quizshow anschauen und sprechen auch viel über Reality. In diesem Genre ist sicher immer etwas Schärfe drin, aber gerade für Sat.1 muss es eine Form von Reality geben, bei der man die Charaktere lieben kann. Ich glaube, wir teilen beide die Ansicht, dass es mehr Fernsehen mit Wärme braucht. Kurz gesagt: Formate, die die Zuschauer eher umarmen und auch das Potenzial haben, die gesamte Familie zu begeistern. 

John de Mol: Ein Vorteil liegt in der Tatsache, dass wir in Holland ähnlich positionierte Sender haben wie Sat.1 und ProSieben und damit von Anfang an daran gewöhnt sind, Genres für unterschiedliche Zielgruppen bzw. Sender zu denken.

Aber ist das Zielgruppen-Denken noch zeitgemäß, wenn ProSieben längst Familienunterhaltung macht und Sat.1 wiederum Reality? Und wenn man Familien zusammenbringen will, geht es doch eher wieder darum, die breite Mitte zu treffen als sich spitze Zielgruppen auszusuchen...

John de Mol: Die Aufgabe wird einerseits schwerer, weil man das Rad immer seltener nochmal neu erfinden kann. Andererseits aber gibt es viele Genres, in denen heutige technische Möglichkeiten noch gar nicht ausgeschöpft werden. Quiz im Fernsehen bedeutet seit den 50er Jahren: Ein Moderator im Studio stellt einem Kandidaten im Studio eine Frage. Auf dieser einfachen Basis sind in den Jahrzehnten tausende Formate entstanden. Aber die technische Entwicklung erlaubt heute doch andere Spielsituationen. Und wir machen im nächsten Jahr in Holland eine neue Talentshow, die wäre technisch selbst vor drei Jahren noch nicht möglich gewesen.

Wolfgang Link: Es ist natürlich die Königsdisziplin, ein Format zu erfinden, das alle anspricht. Das hat John immer angetrieben und das treibt uns immer an. Bei einem kleinen Sender wie Sixx sind wir sehr spitz und haben eine klare Zielgruppendefinition, aber bei den großen Sendern braucht es eine breitere Ansprache. Ein Sender wie ProSieben hat sich über die Jahre weiterentwickelt. Früher war der Anspruch von ProSieben, sehr edgy und sehr spitz zu sein. Heute sendet ProSieben für ein viel breitgefächertes Publikum. Und auch Sat.1 muss sich immer wieder neu erfinden. 

Wenn man „The Voice“ auf beiden Sendern spielt, erhöht das natürlich auch unweigerlich eine Annäherung. Nicht nur mit dem Format erreicht ProSieben ja ein Publikum, das vor 15 Jahren noch ganz bewusst nicht angesprochen wurde ...

Wolfgang Link: Ja, wir haben ProSieben sicher beim Alter etwas nach oben hin geöffnet, weil wir wollen, dass das Programmangebot einem breiteren Publikum Spaß macht. Sat.1 spricht insgesamt eine ältere, weiblichere und familienorientiertere Zuschauerschaft an – und will generationenübergreifend verbindend sein. Ich bin überzeugt davon: Gerade in der heutigen Zeit sehnen sich die Menschen wieder vermehrt nach gemeinsamen, verbindenden Erlebnissen. Das ist gerade für uns als Medienunternehmen eine sehr spannende Entwicklung, denn das ist etwas, was wir als Fernsehanbieter sehr gut können und wofür wir jeden Tag aufstehen: unseren Zuschauern gute, im besten Fall Live-TV-Momente zu bescheren.

Sie sprachen gerade über Quiz. Die letzte globale Innovation war „Who wants to be a millionaire“ und das ist mehr als zwanzig Jahre her...

John de Mol: Und ich kann mich gut daran erinnern, weil wir das Format in sehr vielen Ländern produziert und mit Gerhard Zeiler damals für den Start bei RTL einen besonderen Deal ausgehandelt haben: Endemol wurde nach Quote bezahlt und das stellte sich als sehr lukrativ für uns heraus. Kann es nochmal Innovationen in dem Genre geben? Ja, ich glaube schon. Es gab ja auch schon einige andere Quizformate, die sich seitdem international verbreitet haben. Ob die nochmal so groß werden wie „Millionär“, ist eine andere Frage. Aber wenn wir entwickeln, fangen wir nie an mit dem Vorsatz: ‚Ich will ein neues ‚The Voice‘ oder ‚Wer wird Millionär‘ entwickeln‘. Am Anfang steht bei uns immer zuerst die Idee für etwas Neues. Und unsere internationalen Partner profitieren davon, dass wir hier über eine ausgeklügeltes ‚Testlabor‘ für neue TV-Shows verfügen: Wir entwickeln, wir testen – und nur die Erfolge kommen weiter. Wir präsentieren unseren Partner bereits ‚proven concepts‘ … 

Wolfgang Link: Und das Tolle ist: Wir sind dank unserer neuen Zusammenarbeit sehr frühzeitig mit an Bord und dürfen den Kolleg:innen von Talpa über die Schulter schauen. So können wir rechtzeitig entscheiden, ob eine Formatidee interessant sein könnte für uns und weitere Schritte wie beispielsweise ein Casting frühzeitig anstoßen. Diese Art der Zusammenarbeit beschleunigt die Umsetzung einer Idee ungemein. 

„Who wants to be a millionaire“ und „Big Brother“ sind zwei große TV-Formate, etwa gleich alt: Eines davon sieht heute - zumindest in Deutschland - weitgehend unverändert aus. Die Realityshow wiederum wurde massiv verändert. Herr de Mol, halten Sie „Big Brother“ in der Ursprungsform auch heute noch für ein tragfähiges Format?

John de Mol: Ja und nein. Im ersten Jahr von „Big Brother“ lag der Reiz des Formats auch darin, dass niemand eine Ahnung hatte, worauf er oder sie sich da einlässt. Es wurde sogar von den Teilnehmern in einer Folge der Sendung thematisiert, weil sich alle fragten ob überhaupt jemand zuschaut. Diese Unbefangenheit hat es natürlich schon ab der zweiten Staffel nicht mehr gegeben, weil alle wussten, worauf sie sich einlassen. Staffel 1 von „Big Brother“ war ein Experiment, ab der zweiten Staffel war es ein Format, in dem dann mit neuen Impulsen versucht wurde zu kompensieren, was durch die Bekanntheit des Spielprinzips ein bisschen verloren ging. In der ersten Staffel gab es Szenen von fünf oder sechs Minuten, in denen Menschen auf einer Couch saßen und geredet haben. Das kann man heute nicht mehr machen. Dazu hat sich die Sehgewohnheit verändert, es braucht schneller mehr Impulse.

Herr Link, Herr de Mol, herzlichen Dank für das Gespräch.