Alle saßen an den Rechnern, die Journalistik-StudentInnen des Radio-Kurses, der Dozent und ich war als Gast zugeschaltet. Wir schauten in unsere Corona-Video-Cams und wollten einen Blick in die Zukunft des Radios wagen. Der Dozent fragte nach den Radioerfahrungen seiner StudentInnen und Louisa (21) sagte, eigentlich habe sie heute morgen nach dem Aufwachen ihre Playlist hören wollen, aber aus irgendeinem Grund habe sich ihr „blödes Handy“ nicht mit ihrem „noch blöderen Bluetooth-Lautsprecher“ verbunden. Und so habe sie dann mal wieder Radio gehört. Was gar nicht mal so schlecht gewesen sei, eigentlich sogar ganz cool, sie sei angenehm überrascht. Vielleicht werde sie es sogar wieder tun.

Mit Radio bei jungen Menschen anzukommen, war noch nie einfach. Auch nicht in der analogen UKW-Welt, als man das Radio spaßig als „Dampfradio“ bezeichnete. Entweder lief auf dem Sender die richtige Musik oder eben nicht. Das Radio der 1970er und 80er Jahre hinterließ bei vielen heute Über-50-Jährigen gewisse Traumata. Die damalige Jugend musste ihre Teenagerzeit – je nach der für ihr Bundesland zuständigen Rundfunkanstalt – nicht selten mit Radioprogrammen zubringen, die vom missionarischen Eifer der MusikredakteurInnen geprägt waren. Oder anders ausgedrückt: Die RedakteurInnen sendeten bevorzugt Musik, die ihnen gefiel. Diese Art des Sendungsbewusstseins geriet später als „Redakteursradio“ in Misskredit. Erst in den 80er und 90er Jahren setzte sich bei den Musikredaktionen – auch durch das Aufkommen privater Radiosender – der Gedanke durch, sich bei der Gestaltung des Musikprogramms nicht länger am Geschmack der RedakteurInnen zu orientieren, sondern eher an den musikalischen Vorlieben des Publikums. 

Damit war „junges Radio“ in Deutschland ab den 1990er Jahren sehr erfolgreich. Und nun ist wieder alles anders. Im Zeitalter von Spotify, Youtube und anderen reicht ein guter Musikmix allein nicht mehr aus, junges Publikum für das Radio zu begeistern. Und es bedarf keiner prophetischen Fähigkeiten, dem Radio (ganz gleich, ob Privatfunk oder Öffentlich-Rechtlich) vorauszusagen, dass es zur großen, entscheidenden Zukunftsaufgabe werden wird, in der digitalen Welt an die jungen Leute heranzukommen. 

Noch sieht es gut aus für die jungen Radios. Die Digitalisierung kommt nicht von heute auf morgen, sie kommt langsam und schleichend. Was allerdings die Gefahr birgt, sich in scheinbarer Sicherheit zu wähnen. Radioleute sind gut beraten, sich den Transformationsprozess vom Analogen ins Digitale bei den KollegInnen vom Fernsehen oder Print anzuschauen – hier vollzieht sich der Wechsel vom linearen Fernsehprogramm zur Mediatheken-Nutzung nach und nach und auch die Langspielplatte wurde nicht von einem Tag auf den anderen durch CDs ersetzt. 

Vor einigen Wochen wurden die neuesten Radionutzungszahlen (Media-Analyse 2021) veröffentlicht und bestätigten den langfristigen Trend. Die gute Nachricht zuerst. Fast acht von zehn Über-50-jährigen hören täglich Radio. Bei den 30- bis 49-Jährigen sind es immerhin noch sieben von zehn. Oder anders gesagt: deutlich über 50 Millionen Menschen hören in Deutschland täglich Radio. Das sind hervorragende Zahlen für ein Medium, das immer ein wenig im Schatten von Fernsehen und Printmedien steht. 

Die Millionen über-30-jährigen HörerInnen verbindet eine gemeinsame Vergangenheit: sie wurden mit Radio „sozialisiert“, ließen sich von Radioweckern wecken und von Küchen- und Autoradios informieren und unterhalten, sie hörten Radio, auch wenn da nicht immer „die richtige“ Musik gespielt wurde. 

Und nun zu Louisa und allen anderen jungen Menschen in Deutschland. Die Tagesreichweite des Radios liegt aktuell bei den 14-29-jährigen knapp unter 60 Prozent. Wie es bei den Unter-14-Jährigen ausschaut, weiß kein Mensch, die Jüngeren werden bei der Befragung aus Kostengründen nicht berücksichtigt. Knapp unter 60 Prozent ist immer noch sehr viel. Es gibt nach wie vor in Deutschland „junge Radiosender“ mit mehreren Millionen täglichen HörerInnen. Zum Vergleich: die verkaufte Auflage des früheren Teenager-Zentralorgans „Bravo“ lag im zweiten Quartal 2021 laut IVW bei rund 85.000 gedruckten Exemplaren (in der analogen Welt der 60er und 70er ging die wöchentliche Auflage in die Millionen).  

Von einem solchen Schrumpfungsprozess sind die jungen Radios bisher verschont geblieben. Aber worauf sind die rückläufigen Zahlen zurückzuführen und lässt sich der Trend aufhalten oder sogar umkehren? Die Antworten hat Louisa eigentlich schon gegeben.

Der größte musikalische Kompromiss

Zuerst einmal sagt sie, ihr Smartphone habe sich an diesem Morgen nicht mit ihrem Bluetooth-Lautsprecher verbunden. Deshalb habe sie Radio gehört. Die Entscheidung hatte also etwas mit dem Gerät zu tun, nicht mit dem Programm. Und hier gilt für Radio, was klassisches Fernsehen und Print schon viel früher zu spüren bekamen: der einst exklusive Verbreitungsweg ist weg, Radio, TV und Print konkurrieren nicht mehr im eigenen Genre, sondern mit allem, was über ein Smartphone verfügbar ist. Und das reicht vom Youtube-Video über die Insta-Story und den Musikstream bis hin zum Twitter-Post, um nur einige wenige Möglichkeiten von tausenden zu nennen. Natürlich haben die jungen Radios darauf reagiert, viele verfügen über Apps fürs Smartphone, die neben dem Radioprogramm meist viele schicke Features haben. Und natürlich verlängern die Radiosender – je nach finanzieller Power – ihre Bekanntheit und Beliebtheit mit Youtube-Channels, Podcast, Comedy-Clips, Tiktok-Storys und so weiter ins Netz. Wo sie dann aber mit allem, was da sonst noch so ist, konkurrieren.

Schauen wir auf Louisas zweite Botschaft. Sie zeigte sich überrascht, dass das Radio echt cool geklungen habe. Die Studentin hat also nicht mitbekommen, dass sich Radio längst verändert hat, dass die RadiomacherInnen in allen Sendern nach neuen Wegen und Tönen und Zugängen zum jungen Publikum suchen – und oft auch finden. 

Dabei muss sich das junge Radio noch mehr neu erfinden als das Fernsehen. Niemand hört ein Live-Radioprogramm Stunden oder Tage später in der Audiothek. Es geht also um den Inhalt des Live-Radios, dass sich gegen alle anderen Angebote im Smartphone durchsetzen muss, um seine Botschaft, den Mehrwert. Musikalisch werden die großen Radioprogramme immer den größten gemeinsamen Kompromiss suchen, sonst verschwinden sie in der Nische, wo schon tausende Webradios mit „spitzen“ Musikprogrammen senden.

Die jungen Radios können mehr. Sie schaffen regionale Nähe, können eine Community herstellen (was sich zuletzt in der immensen Hilfsbereitschaft des Publikums nach der Flutkatastrophe zeigte), sie können junge Menschen ernst nehmen, sich zu ihrem Anwalt machen, können ein Gegengewicht zu der infantilen Selbstinszenierung von Stars und Möchtegern-Stars in den sozialen Netzwerken bilden, können die Vielfalt des Lebens widerspiegeln, die Gedanken Gleichaltriger transportieren, können inspirieren, auch Menschen wertschätzen, die nicht ins Schönheitsideal von Heidi Klum und Instagram passen. Sie können ihr Publikum als respektable Menschen verstehen, nicht als Kunden, sie können in jeder Hinsicht divers sein, divers an Lebensläufen und Plänen, um die vielleicht spannendste Zeit des Leben, das Erwachsenwerden, als kongenialer Freund zu begleiten.

Vielleicht wird Louisa das Radio so als etwas Lebendiges, von Menschen für Menschen gemachtes, empfinden und spüren, dass es viel mehr zu bieten hat als ein Instagram-Feed aus Selbstdarstellern oder eine automatisierte Playlist.