Wer Jenke von Wilmsdorff in seiner neuen ProSieben-Sendung "Jenke. Crime." in einer großen Halle an einem edlen Holztisch mit vier anderen Männern sitzen sieht, der könnte sich kurz mal in einer neuen Talkshow wähnen. Jenke am Kopf des Tisches, die anderen um ihn herum. Dass das keine "normalen Gäste" sind und schon gar kein 0815-Talk, wird ganz schnell klar, als der vor einigen Monaten von RTL zu ProSieben gewechselte Journalist fragt, welches Verbrechen denn aussterben wird. "Banküberfall ist total out" platzt es gleich aus zwei Mündern heraus – Autodiebstahl übrigens auch. Kaum mehr Bargeldbestände bei Banken, immer bessere Technik in PKW’s machen den bösen Buben der Nation einen Strich durch die Rechnung. Genau um diese bösen Buben geht es im neuen ProSieben-Format – wobei "böse Buben" ziemlich verharmlosend ist. 57 Jahre Knast sitzen da nämlich bei Jenke am Tisch – und da Martin, einer der Männer, seine Strafe noch vor sich hat, werden noch einige dazukommen.

Jenke von Wilmsdorff, bisher bekannt unter anderem für seine Selbstexperimente, in denen er wahlweise fünf Tage im Drogenrausch verbrachte, den Kampf gegen Nikotin aufnahm oder erfuhr, was es bedeutet, im Rollstuhl zu sitzen, befasst sich in "Jenke. Crime." dankenswerterweise nicht mit sich selbst, sondern mit schier unglaublichen und wahrlich filmreifen Geschichten echter Gangster. Da sitzt mit ihm ein Ex-Neonazi am Tisch, ein Profi-Einbrecher und eben Hubertus Becker, dem sich die erste Episode im Speziellen widmet. Ein spannendes Unterfangen, sprossen doch zuletzt etliche True-Crime-Formate (vor allem in Podcast-Form) aus dem Boden – wer wahrgenommen werden will, muss also gut sein. Ziemlich gut. Jenke gelingt das.

Zweifelsfrei: Die Geschichte des Drogenbarons ist primetimereif und nahezu filmtauglich. Das wissen alle Beteiligten. Kommunikation und Logistik bezeichnet Becker nachträglich als seine größte Stärke. So startet also für die Zuschauer eine Zeitreise – zurück in die 70er Jahre, als der damals junge Becker in der Münchner Schickeria gerne ausschweifend tanzte – immer so, dass man selbst bei weniger genauem Hinsehen erkennen konnte, dass er eine Waffe mit sich trägt. Man kann diesem Mann vermutlich viel unterstellen – und dazu gehört sicher auch ein absoluter Hang zur Eigen-PR. Das von der im Herbst 2020 gegründeten Deutschen Produktionsunion hergestellte "Jenke. Crime." geht nah ran an diesen Mann, der einst mit Drogen Millionen verdiente, der die Inspiration für dieses Geschäft durch den Kinofilm "Woodstock" erhielt, der aber auch seine eigene Hochzeit verpasste, weil er einige Wochen weggesperrt war, wie seine Ex-Frau in einem eindringlichen Interview erzählt. Ein Mann, der vor seinem kleinen Kind kokste – und, wie nach und nach immer deutlicher wird, ein ziemlich verkorkstes Leben führte.

Jenke. Crime © Screenshot ProSieben

Die Reportage, die Jenke und Hubertus an zahlreiche Originalschauplätze führt, macht das Unnachvollziehbare zumindest teilweise greifbar. Sie zeichnet den Aufstieg und auch Fall des heute 70-jährigen Rheinländers nach – und bleibt dabei obendrein optisch ansprechend. Etwa dann, wenn Jenke ganz wie in großen Krimiproduktionen vor einer riesigen Pinnwand mit Fotos, Jahreszahlen, Zeitungsausschnitten und Fahndungsaufrufen steht und sich gespannte Fäden quer über diese ziehen. Die Reportage zieht in den Bann, wenn der Off-Sprecher zwischendurch sagt: "Das nächste Unheil naht bereits." Sie nimmt schier unglaubliche Wendungen – zumindest für all die, die mit der True-Crime-Welt nicht ganz tief verwurzelt sind – etwa dann, als Becker im Knast den Oetker-Entführer trifft und gebeten wird, die 21 Millionen DM Lösegeld zu waschen.

Ins Gesamtbild passt dann irgendwie auch die Anekdote, die Becker im Gestrüpp stehend erzählt: Dass wegen seines Fehlers sechs Millionen davon im Waldboden vergammelten, die Kohle von Viechern zerfressen, von der Erde zersetzt wurde. So nah die Macher an die Person Hubertus Becker herangingen, so eindringlich sie die Zuschauenden auf dem Beifahrersitz mitnahmen, so wichtig war es aber auch, Abstand zu nehmen, Leitplanken zu ziehen.

Die Schattenseite

Ortstermin in Frankfurt, dort wo RTLzwei seine Sozialreportagen dreht. Jenke und Hubertus mittendrin auf der berüchtigten Drogenmeile. Crack hier, Koks da. Das Werk von Menschen wie Becker. Welche Emotionen das beim heute 70-Jährigen auslöst, wird nicht ganz deutlich. Weil Jenke in diesen Momenten behutsam bleibt, windet sich der sprachgewandte Becker, spricht eher von sich selbst als vom Leid, das anderen durch Drogenhandel geschieht. Gut, dass seine einstige Ehefrau Lisa Klartext spricht, ihn als Ehemann disqualifiziert, Drogen klar ablehnt. Genau diese Passagen sind für die Folge so wichtig, rütteln sie doch heftig am Bild des spannenden, glorreichen Gangsterlebens.

Nach dem Ende der Zeitreise durch die verschiedenen Jahrzehnte und Straftaten bleiben freilich Fragen offen. Fragen, die sich jedes True-Crime-Format stellt: Welcher war genau der Punkt, an dem Becker falsch abbog? Schlummert in ihm wirklich "das Böse" oder ist er auf narzisstische Art und Weise eher schonungslos? Damit darf man das Publikum gerne zurücklassen, Reportagen wie "Jenke. Crime." sollen schließlich nachhallen und einen Gedankenprozess im Zuschauer auslösen. Das schafft "Jenke. Crime." mit seiner eindringlichen Erzählung, aber eben auch mit Jenke, der es mit seiner stoischen Art versteht, einerseits Nähe zum Protagonisten zu erzeugen, andererseits aber auch Haltung zu bewahren. Für True-Crime-Fans ist dieses Jenke-Format also sicherlich ein Pflichtprogramm.

Übrigens, das darf nicht unerwähnt bleiben: Hubertus Becker ist wirklich ein Kommunikations- und vermutlich auch ein Vermarktungsprofi. Sich zwei Stunden lang im ProSieben-Programm portraitieren zu lassen, hat für den Mann vermutlich einen guten Grund. Becker arbeitet inzwischen als Autor, habe eine gute Schreibe, wie er selbst in der Reportage erzählt. 2020 hat er im Rhein-Mosel Verlag eine Romanreihe gestartet – Kriminalgeschichten über eine internationale Drogenschmugglerbande. Die Bücher sind weitgehend dokumentarisch und berichten von Problemen und Erfolgen in den 70er Jahren trotz Drogenkrieg, verschiedene Märkte mit Stoff zu versorgen. Es ist eben eine filmreife Geschichte. 

"Jenke. Crime.": Dienstags, 20:15 Uhr bei ProSieben.