In den letzten Monaten der Amtszeit des Ex-ProSiebenSat.1-CEO Max Conze ging es hoch her. Conzes Vorstandskollege Conrad Albert griff seinen Boss auf offener Bühne an und sprach in einem Interview, von dem der Konzern selbst überrascht wurde, von einer "Vorstands-Soap-Opera" und drohte mit einem Abgang, sollte sich nichts ändern. Kurz darauf war Albert weg. Aber auch von externer Seite gab es hörbare Kritik am Medienkonzern: Die Organisation Werbungtreibende im Markenverband (OWM) sprach im Dezember 2019 von zerstörtem Vertrauen im Markt und "geldgeilen Staubsaugervertretern" - Conze arbeitete zuvor beim für seine Staubsauger bekannten Unternehmen Dyson. 

Ende März 2020 war dann von heute auf morgen Schluss für Conze und ganz nebenbei verordnete sich der TV-Konzern auch eine Neuaufstellung. Man wollte wieder mehr Entertainment wagen, also das klassische Kerngeschäft stärken. Nachrangig ist seither der Commerce-Bereich, der in den Jahren zuvor insbesondere in der Zeit von Thomas Ebeling mächtig gewachsen war und entscheidend zum Wachstum der gesamten Gruppe beigetragen hatte. Zuletzt hat man seine Beteiligung an WindStar Medical verkauft und derzeit prüft man auch, wie man den Online-Beautyhändler Flaconi loswerden könnte. 

Neuer starker Mann bei ProSiebenSat.1 ist nach dem Abgang von Conze Rainer Beaujean geworden, der als Vorstandssprecher agiert. Beaujean wiederholte in den vergangenen Monaten mantraartig die neue Strategie: Beteiligungen an Unternehmen, die man in der NuCom Group gebündelt hat, bleiben wichtig, aber nur dann, wenn sie irgendwie auf das Entertainmentgeschäft einzahlen. Bei Flaconi etwa sieht man nicht mehr die Möglichkeit, die Marke über Werbung auf den eigenen TV-Kanälen noch größer zu machen, als sie ohnehin schon ist. Gleichzeitig betont der Konzern immer wieder, wie stark Flaconi und wie ausgeprägt die Diversifizierung im Unternehmen sei. Es sind zwei Punkte, die nicht so recht zueinander passen wollen. 

In jedem Fall eine wichtige Säule bleibt im Konzern der Dating-Bereich. Hier hatte man zuletzt ja die Meet Group übernommen und zusammen mit Parship daraus die ParshipMeet Group geformt. Diese will man nun an die Börse bringen, um General Atlantic, das ebenfalls an NuCom beteiligt ist, eine Ausstiegsmöglichkeit zu geben. Für ProSiebenSat.1 soll der neue Unternehmensteil auch langfristig eine tragende Säule sein. 

Und wie sieht’s im klassischen Unterhaltungsbereich von ProSiebenSat.1 aus? Hier lässt Beaujean den Mitarbeitern, die etwas davon verstehen, mehr Freiraum als das etwa ein Thomas Ebeling tat. Das passiert nicht ohne Grund, Beaujean ist von Haus aus Zahlenmensch, der neben seiner Rolle als Vorstandssprecher auch noch als Finanzvorstand agiert. Allen voran Wolfgang Link, der inzwischen im Vorstand des Konzerns sitzt, kümmert sich um den Unterhaltungsbereich, der zwar weiterhin der mit Abstand größte und wichtigste im Konzern ist, aber 2020 besonders unter der Coronakrise litt. Weil vor allem im zweiten Quartal die Werbeeinnahmen einbrachen, ging der Umsatz der neuen Seven.One Entertainment Group, hier hat ProSiebenSat.1 seit vergangenem Jahr seine TV-Aktivitäten gebündelt, im gesamten Jahr um fast 10 Prozent zurück. 

Das passierte neben dem Tagesgeschäft und den zwei vielleicht ambitioniertesten Projekten der vergangenen Jahre: Ab 2023 will ProSiebenSat.1 seine Nachrichten wieder inhouse produzieren, derzeit werden sie noch von Welt (dem Nachrichtensender, nicht der Zeitung) zugeliefert. Neben einem Hauptstadtstudio in Berlin soll es in Unterföhring eine 60-köpfige Nachrichtenredaktion geben. 2023 soll auch die neue ProSiebenSat.1-Zentrale, genannt New Campus, eröffnen - die Bauarbeiten sind in vollem Gange.

Die Red Arrow Studios hatten zuletzt an Eigenständigkeit eingebüßt: Rainer Beaujean, Wolfgang Link und Henrik Pabst, Chief Content Officer von SevenOne Entertainment, bilden hier einen Beirat, an den das bestehende Management-Team berichtet. Den geplanten Verkauf hatte ProSiebenSat.1 noch unter Conze abgeblasen. Schon in den vergangenen Jahren setzte bei der Produktionseinheit von ProSiebenSat.1 ein kreativer Brain Drain ein, der sich 2020 nahtlos fortgesetzt hat. 

Joyn und Mediaset: Die offenen Baustellen

Und dann wäre da ja auch noch Joyn - dem vielleicht wichtigsten und sichtbarsten Erbe von Max Conze. Die Streamingplattform betreibt man zusammen mit Discovery und wollte aus ihr eigentlich ein nationaler Champion in Sachen VoD machen. Zwar hat man inzwischen viele Livesignale auch anderer Sender im Angebot, deren Inhalte gibt es aber meist nicht auf Abruf. Hier beschränkt man sich auf die Inhalte von ProSiebenSat.1, Discovery und einigen weiteren, kleineren Sendern. Nach Userzahlen liegt man stabil hinter TVNow und 2020 machte Joyn einen Verlust von Höhe von rund 160 Millionen Euro. Wachstum kostet eben Geld, davon können auch Netflix & Co ein Liedchen singen.

Die Plattform wird auch in den nächsten Jahren rote Zahlen schreiben, Rainer Beaujean unterstrich zuletzt aber die Bedeutung von Joyn. Auch wenn er nicht so recht an einen Siegeszug der Abo-Modelle glauben will, was angesichts des eigenen Premium-Bereichs bei Joyn schon ein wenig seltsam wirkt. Und dann hat Joyn weiterhin das Problem, dass es nach dem Abgang von Katja Hofem niemanden in der Führung gibt, der aus dem Kreativbereich kommt. Ohnehin, so heißt es in München, blockierten sich die beiden Gesellschafter von Joyn seit Monaten gegenseitig.

Unklarheit herrscht zudem an anderer Front. Mediaset stockt seine Anteile an ProSiebenSat.1 immer weiter auf und hält über Finanzkonstruktionen inzwischen schon eine faktische Sperrminorität. Was die Italiener aber vorhaben, bleibt vorerst weiter im Unklaren. Mal kritisiert man eine fehlende Strategie bei ProSiebenSat.1, mal kokettiert man mit einem Zusammenschluss. An Rainer Beaujean prallen jegliche Anfragen zum Thema ab. Er erklärt meist, es wäre ein Lob, wenn sich ein anderes Medienunternehmen bei ProSiebenSat.1 einkaufen würde. In tiefgreifenden Gesprächen rund um eine wie auch immer geartete, stärkere Zusammenarbeit sei man mit Mediaset jedenfalls nicht. Und es wirkt auch nicht so, als würde man in Unterföhring gesteigerten Wert auf solche Gespräche legen. Zuletzt hielt sich Mediaset mit Aussagen zurück, aber die Frage bleibt, welche Strategie die Italiener mit ihrem Investment verfolgen. 

Beaujean ist kein Lautsprecher 

ProSiebenSat.1 hat auch nach dem Abgang von Max Conze Baustellen und hinterlässt offene Fragen. In jedem Fall aber ist es deutlich ruhiger geworden - allen voran in der Führung. Eine "Vorstands-Soap-Opera" gibt es keine mehr, der neue starke Mann in Unterföhring ist keiner, der versucht, sich über große Worte zu profilieren. Dass er nicht am Lautsprecher-Syndrom leidet, tut dem ganzen Konzern gut. Beaujean wirkt vor allem nach innen - ganz im Gegensatz zu Conze, der jeden und allen von seinen Visionen wissen ließ. Und während sonst ProSiebenSat.1 für die wilden Schlagzeilen sorgte, ist es gerade eher die Mediengruppe RTL Deutschland, die sich einmal komplett auf den Kopf stellen will. 

Nach einem Jahr im Amt kann man Beaujean ein überwiegend gutes Zeugnis ausstellen. Durch die Coronakrise ist ProSiebenSat.1 jedenfalls besser gekommen als man das zunächst hätte befürchten können. Und auch der Aktienkurs hat sich nach dem Abgang des Max Conze mehr als verdoppelt, wobei das ja immer nur bedingt aussagekräftig ist. Beaujean übernahm den Posten des Vorstandssprechers genau nach dem massiven Kurseinbruch im Zuge der Coronakrise. Beaujeans wohl größter Verdienst ist die Wiederherstellung des inneren Friedens des Medienkonzerns. Von "geldgeilen Staubsaugervertretern" spricht heute ebenso niemand mehr.