Dieter Bohlen © TVNow/Stefan Gregorowius Raus: Dieter Bohlen
Bei der Einordnung der überraschenden Trennung von Dieter Bohlen taten sich am Donnerstag mehrere Journalistinnen und Journalisten ebenso schwer wie viele Fans: Hat Bohlen hingeschmissen? Warum sollte RTL sich schließlich von ihm trennen? Von einstigen Quotenrekorden ist man zwar längst entfernt, aber trotzdem war er bei "DSDS" und "Supertalent" doch eine sichere Bank. Kein Wunder also, dass manche Berichterstattung lieber den Eindruck vermittelte, als hätte Bohlen hingeworfen - das ist einfacher zu erzählen und schnell runtergeschrieben. Die Wahrheit ist eine andere, komplex und für RTL ungewöhnlich.

Vor einem Monat enthüllte DWDL.de das Projekt "RTL United", unter dem die RTL Group und ihre Mediengruppe RTL Deutschland in den kommenden Monaten ihre Markenarchitektur vereinheitlichen will, sowohl national wie auch international. Das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille: Um mitunter sogar etablierte Marken aufzugeben und unter der Marke RTL zu "harmonisieren", soll zunächst ein gemeinsames Verständnis der gestärkten Kernmarke helfen. Man könnte von Leitlinien für das Handeln sprechen. Auch diese sind Teil des Projekts "RTL United". Man sollte meinen, solche Leitlinien hätte RTL schon gehabt. In schönem Marketingsprech hat das heute doch jeder Konzern, der etwas auf sich hält, aber dem war nicht so.

Nach DWDL.de-Informationen addressieren die erstmals erstellten Leitlinien für die RTL Group und ihre Töchter, die in diesen Wochen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den diversen europäischen Märkten vorgestellt werden, dabei zwei Aspekte, die sich tatsächlich abheben vom Einerlei der blumigen Worte, die sich inzwischen viele Konzerne auf die Fahne schreiben: Einerseits bekennt sich RTL darin zu "Tacheles", wie man es formuliert - sozusagen einem Leitlinien-Äquivalent zur Aussage, man wolle Mainstreamer sein und sei nicht für die Nische gemacht. Interessant wird das erst in Kombination mit einem anderen Aspekt: Alle Programme und Entscheidungen sollen sich künftig an den neuen Leitlinien messen lassen.

"Das neue RTL wird sich nicht auf ein neues Logo beschränken"

Mediengruppe RTL Deutschland © imago images / Future Image
Und darin finden sich allerlei Begriffe: Informieren, unterhalten, motivieren, ermöglichen, ermutigen, unterstützen - all das und ein Bekenntnis, Haltung zu beziehen zu gesellschaftlichen Themen. Die Marke RTL soll künftig positiv aufgeladen werden. "Just inspire" ist die Quintessenz. Für sich genommen wäre das nur ein schon oft gehörter Marketingsprech. Würde man die Leitlinien ernst nehmen, müsste man schließlich Konsequenzen ziehen im Programm - und genau das beobachten wir gerade. "Das neue RTL wird sich nicht auf ein neues Logo beschränken", erklärt ein hochrangiger Mitarbeiter gegenüber DWDL.de. 

Die Trennung von Dieter Bohlen ist nicht einmal der erste Schritt: Auch das zunächst irritierend wirkende Interview von RTL-Unterhaltungschef Kai Sturm, der sich im Nachgang kritisch über das selbst ausgestrahlte "Sommerhaus der Stars" äußerte, war dem neuen Selbstverständnis geschuldet. Möchte man es überspitzt und böse formulieren, könnte man sagen: Es schert sie plötzlich beim RTL, was man so über den Sender schickt. Ob das neu entdeckte Sendungsbewusstsein anhalten wird, bleibt abzuwarten. Der Rauswurf Bohlens soll aber nicht die einzige Zäsur bleiben. Bei RTL will man einen Neuanfang, spricht sogar von Relaunch. 

Das Bemerkenswerte daran: Man adressiert erstmals Versäumnisse und gesteht Fehler ein. Neue Köpfe auf vielen Positionen helfen dabei, wobei die Reflexion auch schon Jörg Graf an der Spitze des RTL-Programms beherrschte. Und doch dürfte es der jetzt aufgestellten Führungsmannschaft (in der immer noch wenige Frauen mitwirken) leichter fallen, mit dem Erbe härter ins Gericht zu gehen - die Trennung von Dieter Bohlen gestern ist zweifelsohne ein Dokument dessen. Ob das Neue erfolgreicher sein wird als das, von dem man sich in diesem Jahr trennen will, muss sich noch beweisen. Schon jetzt wird aber deutlich: Bei RTL wird neu gedacht. Eine Revolution nach Jahren der Starre - am Ende eines langen Weges.

Ein langer Weg von Egomanie zur Selbstreflexion

RTL Januar 2020 © RTL
Aus einer Position der Stärke galt beim Marktführer im deutschen Privatfernsehen mit hochgetragener Nase lange die Übertreibung als Mittel der Wahl in vielerlei Belangen: Im Programm von RTL galt: Immer lauter, frecher, krasser, dreister. Von "Schwiegertochter gesucht" über "Super Nanny" bis zum Freifahrtsschein für Dieter Bohlen. Es war das RTL geprägt von Unterhaltungschef Tom Sänger, Comedy&Reallife-Chef Holger Andersen und Executive Producer Sascha Naujoks. Schäferkordts Boys fanden sich wahnsinnig geil und der Erfolg bekräftigte sie. Das ist zwar mehr als zehn Jahre her, aber RTL baut noch bis heute - oder eben bis gestern - auf viele der Köpfe und Ideen von damals. 

Kontinuität ist nicht bei jeder Sendung ein Makel, aber kein Programmschema war so lange so verkrustet und festgefahren wie das von RTL. Kein Wunder: Produzentinnen und Produzenten wussten nicht, ob sie lachen oder weinen sollten, wenn sie beim Pitch neuer Ideen und Talente früher erwidert bekamen, dass man mit dieser oder jeder Idee keine Chance sehe auf Anhieb bei 20 Prozent Marktanteil zu liegen. Erfolg erstickte Innovation. Der größte Privatsender hielt an Köpfen und Ideen fest, wie es nicht einmal ARD und ZDF taten, die sich tatsächlich mehr erneuert haben als die Kölner. 

Gelernte Sendeplätze und Formatideen, die bis zur Unkenntlichkeit ausgequetscht, pardon, weiterentwickelt wurden, waren das Mantra. Der Erfolg heiligte die Mittel, das Ergebnis zählte und Kritik perlte ab. Mitunter wirkte es sogar so, dass der Sender Ärger mit Medienwächtern und öffentliche Empörung einkalkulierte. Any PR is good PR. Dazu ein lange Jahre schwieriges Nachmittagsprogramm. Ein ehemals hochrangiger Mitarbeiter des Senders gab vor wenigen Jahren den denkwürdigen Satz zum Besten, "der Ruf des Senders liege irgendwo kurz hinter Nordkorea". Diplomatisch formulierte es der ehemalige RTL-Programmgeschäftsführer Frank Hoffmann, der den Euphemismus vom "Stachel im Programm" nutzte, um diese Seite des Senders zu umschreiben.

© Frank Hoffmann
Bunt zu sein, war über Jahre hinweg ein anderer Euphemismus. Von Programmankündigungen über Podiumdiskussionen bis zur Frage an RTL-Anchor Peter Kloeppel, wie wohl er sich angesichts mancher zweifelhaften RTL-Sendungen im Sender fühlt, war die Antwort oft: RTL ist eben bunt und hat für jeden etwas. Spätestens seit 2013 befindet sich der Kölner Sender jedoch auf einer Sinnsuche, die man aber bis zum Jahr 2021 nicht offen als solche verstanden wissen wollte. Es war der übliche Marketingsprech: Man wolle besser werden, ohne zu benennen, was denn schlecht war. Nun, es ist ja auch nicht so, als hätte der Sender nicht über die Jahre weiter gut Geld verdient und in diesem Sinne funktioniert. 

Okay, das Penthouse sei weg, erklärte der damalige RTL-Programmgeschäftsführer Hoffmann 2013 in gewohnt blumigen Worten und tat damit den ersten Schritt zur Erkenntnis: Weiter so geht nicht, wir haben da ein Problemchen. Unter Hoffmann gab es eine erste Informationsoffensive - mit vereinzelt verlängerten Hauptnachrichten, Sondersendungen und "Team Wallraff" mit der großen Burger King-Enthüllung. Es war das Jahr 2015 und Relevanz flackerte zwischenzeitlich als neues Steckenpferd auf, aber der gelernte Journalist Frank Hoffmann konnte die Farbe nicht dauerhaft etablieren.

Kehrtwende zum sanften Riesen?

Henning Tewes © MG RTL D / Marina Rosa Weigl Henning Tewes
Dazu ging der Versuch, zwischen Dieter Bohlen und "Schwiegertochter gesucht" anspruchsvollere Highend-Fiction anzubieten, mit "Deutschland 83" im Herbst 2015 baden - weil es gar nicht erst gefunden wurde. Eine demotivierende Erfahrung, in deren Konsequenz RTL im Fiktionalen auf eine austauschbar-belanglose Serien-Offensive setzte. Dazu setzte dann der Reality-Boom der vergangenen Jahre ein, der stabilisierte. Dass man es im vergangenen Jahr beim "Sommerhaus der Stars" übertrieben hat, war ungewohnt. Jetzt ist es besser verständlich. Mit mehr Informationsangeboten, mehr Sondersendungen ist RTL seit Jörg Graf und jetzt unter Henning Tewes zurück beim einst von Hoffmann angedachten Weg der Relevanz.

In der Unterhaltung wird es hingegen noch spannend: RTL braucht neue Köpfe, nicht nur bei "Deutschland sucht den Superstar" und "Supertalent", auch etwa bei "Take me out", wo der bisherige Moderator zu Sat.1 gewechselt ist. Und Bohlen ist sicher nicht der einzige Lautsprecher im Programm der Kölner, der mit seiner Art inkompatibel ist mit den neuen Leitlinien der von CEO Bernd Reichart geführten Mediengruppe. Am Ende des Jahres dürfte RTL als Unternehmen und Sender anders aussehen als jetzt - und das nicht nur aufgrund des neuen Logos. Ein gewagter Schritt nach all den Jahren, in denen das Image weitgehend egal war. Vielleicht würde Sat.1 - wo man übrigens schon länger erklärt, lauter werden zu wollen - den Titel des "Kuschelsender" ja weiterreichen. RTL auf dem Weg zum sanften Riesen?

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