Muss man sich Tita von Hardenberg in Zeiten des biologischen Terrors als sehr verzweifelten Menschen vorstellen? Raubt ihr, wie es bei der Kanzlerin nach eigener Aussage der Fall sein soll, die Pandemie die Nachtruhe, weil Kunst und Kultur in einen nicht enden wollenden Dämmerschlaf versetzt sind? Ist also für eine Fernseh- und Web-Produzentin, die sich auf Sendungen über das Schaffen von Kulturschaffenden spezialisiert hat und das europaweit, Corona die größte anzunehmende Katastrophe? Oder lauert woanders, hallo Sachsen-Anhalt, die noch größere Gefahr?

Fassen wir vorab mal so zusammen: Es ist nicht alles schlecht. Im Soundtrack von Tita von Hardenbergs derzeitigem Leben finden sich Moll und Dur. Und so blickt einem statt Tristesse überraschend Zuversicht entgegen aus dem Zoom-Separee, wo im Hintergrund ein (was sonst!?) Kunstwerk zu sehen ist, das die aktuelle Lage nicht treffender ins Bild setzen könnte: Ein junger Mann in Badehose, erschaffen von einem portugiesischen Künstler, schaut suchend durchs Fernglas. Was als Kommentar zu Breaking News von anlandenden Flüchtlingen an Europas Urlaubsstränden entstanden ist, erfährt in von Hardenbergs privaten vier Wänden eine spannende Brechung: Ja, wo ist sie denn, die Kultur? Wann landet sie endlich wieder bei uns an?

Über Kultur zu berichten, die nicht stattfindet, sei „natürlich mitunter verzweiflungsvoll“, gibt Tita von Hardenberg zu. Ein Magazin wie „Tracks“ auf Arte, das ihre Kobalt Productions seit der Firmengründung gemeinsam mit Stefan Mathieu und Michael Khano im Jahr 1997 herstellt, läuft trotz Pandemie weiter. Um jede Woche eine Dreiviertelstunde Sendezeit dennoch zu füllen, ohne Festivals, ohne Vernissagen, ohne jegliche Auftritte, habe man umdenken müssen. Aber darin sieht die bald 53-jährige Firmenchefin, die einst als Moderatorin des Zeitgeistmagazins „Polylux“ Bildschirmberühmtheit erlangte, auch eine Chance: „Es ist immer gut, wenn man komplett aufgerüttelt wird und seine eingefleischten Wege überdenken muss. Dadurch kann Neues entstehen.“ Auch wenn es im Falle von „Tracks“ erstmal bedeutet, dass man die eigenen Archive wiederentdeckt.

Tita von Hardenberg © IMAGO / APress
Die schwitzigsten Keller-Konzerte, die riesigsten Festivals, die wildesten Strand-Partys, die tollsten Reisen – all das, was jetzt verboten ist, rührte die Kobalt neulich in einer „Tracks“-Sondersendung unter der Überschrift „Escape“ zusammen. Und die Quote war gut, wie Arte überhaupt von der kulturlosen Zeit profitiert. „Offenbar genießen viele Zuschauer eine kleine Flucht aus der Gegenwart“, erklärt sich von Hardenberg den erfreulichen Zuspruch. Sie selbst kann es übrigens kaum erwarten, sich endlich wieder ganz real in ihr Lieblingsfestival zu stürzen: Lollapalooza. Alternative Rock, Rap, Punkrock – Katharina Isabel Gräfin von Hardenberg, so der korrekte Geburtsname, mag es privat laut und hart. Beruflich hat sie auch ein Faible für die Klassik.

Es brauchte im vorigen März nur 72 Stunden Vorbereitung, da streamte Arte mit Hilfe der Kobalt Live-Konzerte aus der Villa des Star-Geigers Daniel Hope in Berlin-Dahlem. Aus dem Wohnzimmer in die Wohnzimmer – „Hope@Home“, das von Hardenbergs Kompagnon Mathieu entwickelte und umsetzte, war ein wirklich neu gedachtes Lockdown-Produkt und „die richtige Idee zur richtigen Zeit“. Die Abrufzahlen auf allen Kanälen sprangen auf mehr als zehn Millionen. Am 12. Februar folgt die Fortsetzung mit „Europe@Home“, wieder mit Hope als Hausherr. Ein Allegro da capo sozusagen.

Ohne den ersten Lockdown und das überbordende Bedürfnis nach gestreamten künstlerischen Darbietungen, glaubt Tita von Hardenberg, wäre es wahrscheinlich nie zu „Hope@Home“ gekommen. Auch dass sich das ZDF (über dessen Arte-Koordinator Wolfgang Bergmann) mit dem WDR zusammentat, um das Format gemeinsam zu finanzieren, sei ein Novum gewesen. „So hat die Pandemie auch Positives hervorgebracht.“ Überhaupt sei ihnen senderseits einiges Entgegenkommen gebracht worden. So drückte Arte im vorigen Frühjahr die Augen zu: Als Reisen fast unmöglich war, war es eine Weile erlaubt, für das europäische Reportageformat „Arte Re:“ vor Ort in Berlin nach Themen zu stöbern. Das ist nun passé. Und es stellt die Doku-Schmiede, die sich 2017 mit der Tochtergesellschaft Bleu Kobalt in Paris dauerhaft vergrößert hat (der Standort in Wien ist inzwischen aufgegeben), vor Herausforderungen finanzieller Natur.

Sausten bis vor einem Jahr jede Woche drei bis fünf Kamerateams der Kobalt durch die Welt, sei das im Moment gar nicht zu schaffen, rechnet von Hardenberg vor. Die Flugpreise hätten sich pandemiebedingt vervielfacht, erschwerend kämen die Quarantäne-Bestimmungen hinzu. Statt für Interviews zu den Leuten zu fliegen, behilft sich die Kobalt mit Video-Interviews – die eine Bildästhetin wie Tita von Hardenberg aber „ehrlich gesagt langsam nicht mehr sehen kann“. Die typische Zoom-Optik in den schönen Filmen, ach, ein Graus. Aber gut, über diesen Weg komme man an Gesprächspartner heran, die in normalen Zeiten nicht in Frage gekommen wären, schon weil sie am anderen Ende der Welt, zum Beispiel in Australien, sitzen. Und, ein weiterer angenehmer Nebeneffekt: Dass Interviews platzen, weil die Interviewten kurzfristig den direkten Kontakt mit dem Kamerateam scheuen, komme bei der virtuellen Variante nicht vor. An der optischen Verbesserung der Fern-Interviews sind sie bei der Kobalt jedenfalls dran.

Die Chefin selbst, sonst gerne auch als Autorin und Reporterin unterwegs, begnügt sich derzeit mehr oder weniger mit dem Dasein im, wie sie es nennt, „Pendel-Office“, also pendeln zwischen Büro in der Berliner Torstraße in Mitte und Homeoffice. Von dort aus aktivieren sie, die beiden weiteren Gesellschafter Katrin Sandmann und Stefan Mathieu und ihr Team Freelancer, die schon vor Ort sind, gerade in England. Eine hakelige Angelegenheit ist das, denn die Externen kennen nicht die Standards, den besonderen Kamerastil, den sich die Kobalt über die Jahre erarbeitet hat. Das müsse dann durch Nachdrehs und im Schnitt ausgeglichen werden, „damit es trotzdem noch gut aussieht“. Es ist, und das glaubt man von Hardenberg aufs Wort, „gerade ein unheimlich angespanntes Arbeiten und ständiges Improvisieren“. Und als wären diese Begleiterscheinungen der Pandemie nicht schon anstrengend genug, droht auch von anderer Stelle Ungemach.

Seit die Politik in Sachsen-Anhalt zu Jahresbeginn die Erhöhung des Rundfunkbeitrags blockiert hat, spürt auch die Kobalt die Konsequenzen unmittelbar. Eigentlich hätte es bald losgehen sollen mit dem Dreh einer fiktionalen Web-Serie. Der Stoff: eine Art Krimi für die Mediathek, innovativ gefilmt von einem israelischen Regisseur und mit Insta-Begleitung und User-Beteiligung vorgesehen. Aber das Projekt liegt momentan auf Eis, bis mindestens März. „Wenn gekürzt wird“, weiß die Produzentin aus leidvoller Erfahrung, „geht es als erstes den innovativen, experimentellen Produktionen an den Kragen. Also da, wo etwas Neues probiert wird, für die Online-Kanäle der Sender, die ja für die öffentlich-rechtlichen Rundfunk eigentlich immer wichtiger werden sollten, um ein jüngeres Publikum zu erreichen. An die Flaggschiffe geht keiner ran.“ Hoffnungen, dass beim ARD-Tanker umgelenkt wird in Richtung Zukunft, nährte die geplante Kulturplattform aller ARD-Anstalten. Doch auch dieses Projekt ist ausgesetzt, weil das 86-Cent-Plus ausbleibt. „Wir hatten uns schon auf die neuen, webaffinen Köpfe gefreut, die da ein Spielfeld bekommen hätten.“ Ein „jammerschade“ hängt Tita von Hardenberg an diesen Satz noch hinterher.

Nun kann man gerade ihr und ihrem rund 60-köpfigen Team alles andere als vorwerfen, die Öffentlich-Rechtlichen, speziell den RBB, nicht frühzeitig auf die digitale Fernsehzukunft hingewiesen zu haben. Mit dem Debattenportal „Polylog“ war die Kobalt 2006 Avantgarde. Es handelte sich um eine Art öffentlich-rechtliches YouTube, das die Inhalte des TV-Magazins „Polylux“ zeitgemäß im Netz ergänzte. 2007 gab es dafür den Grimme Online Award; bald darauf war Sendeschluss, sowohl im TV als auch im Internet, was auch insofern sehr bedauerlich ist, als niemand mehr von außen Zugriff hat aufs üppige „Polylux“-Archiv und damit 13 Jahre Fernsehgeschichte.

Tita von Hardenberg © IMAGO / APress
Hach, wie war das noch mal mit „Fuck for Forest“, dieser seltsamen Truppe, die für den Naturschutz öffentlich Sex hatte und es der Redaktion unter Leitung von Tita von Hardenberg offenbar besonders angetan hatte? Dem Jugendschutz, den die regelmäßigen Berichte des Berliner Magazins über diese Bewegung damals auf die Barrikaden trieben, dürften sie nicht fehlen. Aber vielleicht der Moderatorin? Vermisst sie die Jahre vor der Kamera, in denen sie sich, total avantgardistisch, an transparenten, textlosen Moderationskarten festhielt, während der Teleprompter lief?

Ihr persönlich, sagt Tita von Hardenberg, fehle die „Polylux“-typische Sichtweise auf die Gesellschaft, die „absurden Blüten des modernen Lebens, die witzigen Zeitgeistthemen, die uns immer wieder umtrieben“. Klar, heute gebe es die Shows von Böhmermann und Welke. Ihr Magazin sei aber „frei von Sendungsbewusstsein“ gewesen: „Wir wollten niemanden erziehen.“ Manche Ironie und Lästerei, so ist nicht nur ihr Eindruck, wäre heute nicht mehr möglich. „Der Humor ist politisch korrekter geworden. Vielleicht ist das auch gut so.“ Noch zwei, drei Mal zog es sie nach der „Polylux“-Phase vor die Kamera, für den Talk „Was uns unter den Nägeln brennt“ (Arte) zum Beispiel. Aber nur moderieren, wenn man nicht auch die Sendung gestaltet und verantwortet, sei „als wenn man bei der Tortenproduktion nur noch für den Zuckerguss zuständig wäre“. Also lässt sie es und genießt den Luxus zu arbeiten, „ohne dass jeder Schritt öffentlich kommentiert wird“.

Nur ihre markante, leicht rauchige Stimme setzt Tita von Hardenberg manchmal im Fernsehen noch ein. Zuletzt war sie zu hören in der Kobalt-Produktion „Lebenslieder“ mit Max Mutzke. Seine Produzentin sprach im Off die Einspielertexte zur Show, die sich, nun ja, noch entwickeln muss oder besser: Max Mutzke muss sich noch in der ungewohnten Moderatorenrolle besser finden. Aber hey, es gab mal wieder Live-Musik und die Erinnerung an bessere Zeiten, wie sie nicht zuletzt auch Tita von Hardenberg herbeisehnt. Es dürfe nicht mehr allzu lange dauern mit der Pandemie, sagt sie, „sonst stoßen wir an unsere Grenzen“. Ihr Optimismus aber sei notorisch: „Am Ende werden wir glücklich sein, dass wir Corona überlebt haben.“ Und wie lässt sich die Durststrecke durch den kulturellen Shutdown ertragen?

Tita von Hardenberg hat da einen besonderen Weg gefunden. Die Kobalt mietete kürzlich über ihren Berliner Büroräumen eine halbe Altbauetage hinzu, um einen Raum für Konzerte einzurichten. Musik unplugged, wenn auch vorerst ohne Publikum – das klingt gut. In diesem Sinne: Die Kultur ist (fast) tot, hoch lebe die Kultur!