Es war für niemanden von uns ein einfaches Jahr, und zwei Wochen vor Schluss lohnt es sich, Wertschätzung gegenüber denen auszudrücken, die in diesem Jahr Außergewöhnliches geleistet haben. Die Fachkräfte in den Krankenhäusern, die Angestellten im Lebensmitteleinzelhandel, die Paketzustellerinnen und Paketzusteller gehören sowieso dazu. Oft geraten aber jene Vergessenheit, die für ihren Einsatz nicht einmal öffentlich beklatscht, sondern im schlimmsten Fall noch ausgelacht werden: unsere Realityshow-Protagonisten.

Das ist nicht fair angesichts der Leistungen, die das deutsche Fernsehen seiner Ersatzprominenz über die vergangenen Monate abverlangt hat, oder wie es Sarah Knappik im Spätsommer in der ersten Staffel von "Like Me – I'm Famous" unter Tränen der Enttäuschung formuliert hat: "Ich hab so viel für RTL getan in all den Jahren."

Ja, und was tut ihr RTL zurück? Hohn, nichts als Hohn, plötzlich in der B-Liga der schönen neuen TV-Realität den Kopf hinhalten zu sollen!

Den Sendern stets zu Diensten

Dabei standen sie doch alle parat, als die Sender sie das erste Mal riefen. Und dann nochmal, immer wieder. Die meisten hatten keine andere Wahl, nachdem sich übers Frühjahrs herauskristallisierte, dass es in diesem Jahr auf Mallorca keine Partyauftritte zu absolvieren und keine alkoholisierten Massen zu beschlagern geben würde, was eine ganze Alleinunterhalterbranche in den Abgrund zu reißen drohte – bis aufstrebende Streaming-Anbieter und abstrebende Fernsehsender mit einer Flut an Reality-Projekten im allerletzten Moment für Vollbeschäftigung sorgten.

Like me - Im Famous © TVNOW / Stefan Gregorowius Sie haben soviel für RTL getan: Ensemble von "Like Me – I'm Famous"

Egal ob Meister ihres Fachs oder blutige Newcomer: In diesem Sommer wurde jede und jeder in eine deutsche Bewegtbildproduktion gelassen, der bzw. die bei drei noch nicht in den Sangria gefallen war – oder wie der Kollege und DWDL-Realityexperte Timo Niemeier im Zuge seiner diesjährigen Genre-Vollerhebung sachkundig urteilte: Realitystar war 2020 "ein krisenfester Job".

Sat.1 sorgte zum Auftakt mit dem Mobbing-Skandal von "Promis unter Palmen" direkt für den ersten Knaller und mühte sich im Spätsommer, mit der Werner Hansch'schen Selbstrehabilitierung bei "Promi Big Brother" die Karmakurve zu kriegen, während RTL mit dem "Sommerhaus der Stars" ansetzte, alles bislang Dagewesene in Schutt und Asche zu legen; RTLzwei musste sich nach "Love Island" mit dem "Kampf der Realitystars" ins Zeug legen, nicht den Sat.1-"Festspielen der Realitystars" den Vortritt zu lassen. Quantitativ gesehen kam aber natürlich keiner der zuvor genannten auch nur annähernd am Trash-Neuling TVNow vorbei, der mit "Are You the One", "Ex on the Beach", "Couple Challenge", "Temptation Island VIP" und eben "Like me – I'm Famous" eindrucksvoll seinen Machtanspruch demonstrierte.

Der Kampf ums Preisgeldchen

Über die schiere Vielzahl der Sendungen darf nicht vergessen werden, dass die Budgets zahlreicher Formate eher im Niedriglohnsektor angesiedelt waren, teilweise mit Preisgeldern im unteren fünfstelligen Bereich!

Allein für die Chance auf schlappe zehn- bis zwanzigtausend Euro wurde von Teilnehmerinnen und Teilnehmern verlangt, sich mehrere Tage, zum Teil sogar Wochen mit anderen, komplizierte Rivalitäten pflegenden Zeitgenossen auf engstem Raum anzuschreien und sich zwischen unwürdigen Spielen, in denen wiederkehrend Allgemeinwissen und Körperbeherrschung abgefragt wurden, mit Champagner zu betäuben.

Dass die Veranstalter nicht davor zurückschreckten, erfahrene Granden ihres Fachs ungefragt mit jungenhaft wirkenden Influencern und in die Branche hineingestolperten Frischlingen zu mischen, saß bei manchem als Schock besonders tief. "Jetzt mal unter uns: Ich wusste nicht dass ich mit solchen Schrottelsen am zweiten Tag schon fighten muss", gestand Dschungelkönigin Melanie Müller ihrem Malle-Kumpel Don Francis, als der engagierte Trash-Pöbel ihr bereits kurz nach dem Einzug in eine nordrhein-westfälische Mietvilla bei "Like me – I'm Famous" nicht nur die Gefolgschaft, sondern auch den vorauseilenden Sieg versagte.

Weil das ihr Job ist

Gleichzeitig hat Müller bei dieser Gelegenheit auch den vielleicht wichtigsten Satz gesagt, der weit über die Grenzen des sich zunehmend ausbreitenden Reality-Universums von TVNow Gültigkeit besitzt. Der Satz war die Antwort auf die Frage, warum sie das alles überhaupt macht, und lautete: "Weil das mein Job ist und ich die verf*ckte Kohle brauch." (*Sternchen von mir.) Der zweite Teil ist grundehrlich, aber keine Überraschung. Und der erste musste endlich mal ausgesprochen werden, um ein für allemal zum Ausdruck zu bringen, dass es sich bei den Damen, Herren und Genderneutralen, die sich zu unser aller Ablenkung in nahezu jede Bresche werfen, in der Tat inzwischen um eine anerkennenswerte Berufsgruppe handelt.

Realitystar ist man nicht, Realitystar muss man werden, vor allem aber: hart daran arbeiten, es auch zu bleiben.

Selbst die ganz Großen nahmen in diesem Jahr zwei, manchmal sogar drei Shows nacheinander an, um über die Runden zu kommen – und dafür auch noch mit dümmlichen Spielen gedemütigt zu werden. Bei den Sat.1-"Festspielen" als eingeschleimte menschliche Bowlingkugel Riesenpins umzuwerfen ging ja noch in Ordnung, aber als RTLzwei von Jürgen Milski verlangte, beim "Kampf der Realitystars" einen Cocktail mit Spucke auszutrinken, ist dem der geistige Strohhalm geplatzt: "Das könnt ihr mit irgendwelchen *rschl*chern machen, die Sch*iße da!" (*Sternchen von mir.) Willi Herren hat sich von einer TV-Trash-Insel zur nächsten schubsen lassen, um sich durch "Temptation Island VIP" zu flennen, weil seine große Liebe aus Furcht, im falschen Zusammenhang zitiert zu werden, einen Satz gesagt hat, den TVNow dem Gatten zur augenblicklichen Selbstzerfleischung ohne Zusammenhang gezeigt hat.

Temptation Island VIP © TVNOW Aus dem Zusammenhang gerissen: Willi Herren mit Frau Jasmin

Am besten lässt sich dieses an Absurditäten nicht arme Reality-Jahr aber vielleicht von der Tatsache zusammenfassent, dass Helena Fürst nach ihrer sofortigen Abwahl bei "Like Me – I'm Famous" bei den Sat.1-"Festspielen" so stark von einer durch Thorsten Legat auf sie geworfenen Torte am Auge verletzt wurde, dass sie ihre Teilnahme am diesjährigen "Promiboxen" absagen musste. (Bitte lesen Sie dazu auch den grandiosen Teaser des Kollegen Niemeier.)

Wie die Geier überm TV-Ruhm

Die eigentliche Bedrohung, die den Etablierten in diesem Jahr so richtig bewusst geworden ist, dürfte aber darin bestehen, dass sich junge Nachfolgerinnen und Nachfolger bereits wie die Geier über ihrem televisionären Ruhm kreisen.

Die Jahre, in denen man sich in Daily Soaps und Castingshows einen Namen gemacht haben musste, um anschließend wiederholt für Realitshow-Teilnahmen angefragt zu werden, sind lange vorbei. Heute generiert das Genre seinen Nachwuchs vorrangig aus sich selbst heraus, wie ein Perpetuum Mobile der Zwietracht. Die Teilnahme an einer regulären Fremdgehprovokation wie "Temptation Island" berechtigt dieser Tage fast automatisch zum darauffolgenden Aufstieg in die Promi-Version. Nicht Leistung oder über Wochen gepflegte Präsenz in der "Bild"-Zeitung zählen mehr, sondern schlicht physische Präsenz und ein den Sommer über freigehaltener Terminkalender. Eine beängstigende Vorstellung für eine Generation, die sich ihre Karriere noch hart erarbeitet hat.

Genau deshalb ist es jetzt Zeit, unseren Realitystars einmal das zu geben, was ihnen sonst aus beruflichen Gründen stets verwehrt bleibt: Versöhnlichkeit – und für ihren unermüdlichen Einsatz Danke zu sagen. (Allen, außer Georgina.)

Danke für alles!

Ihr stänkert erst mit- und dann gegeneinander, damit andere daraus Quotengold machen können!

Ihr riskiert nicht nur euren guten Ruf, sondern sogar eure Sponsoring- und Werbeverträge!

Ihr beichtet öffentlich Fehltritte, um direkt neue zu begehen!

Ihr macht bloß euren Job und lasst euch dafür von Oliver Pocher verspotten!

Ihr zieht euch gegenseitig beim Verteilen virtueller "Likes" über den Tisch und nehmt das bloß einander übel, aber nie dem Sender, der es sich genau so ausgedacht hat!

Ihr kehrt eure Innerstes nach außen, damit Angela Finger-Erben im melbafarbenen Peach-Kleidchen darauf herumtrampeln und euch ihre goldenen Absätze in die Seele bohren kann!

Show für Show opfert ihr heldenhaft und ohne nachzudenken eure körperliche und geistige Unversehrtheit.

Und das alles nur – um uns zu unterhalten! (Oder wie Nachwuchshoffnung Diana [?], bekannt aus Love Island", in irgendeiner anderen RTLzwei-Sendung gesagt hat: "Man gibt was, aber man kriegt halt nicht dasselbe zurück.") Deshalb: Danke für alles! Danke, Realitystars. (Außer Georgina.)

Und damit: zurück nach Köln.

Die oben genannten Sendungen sind vollständig bei TVNow oder Joyn abrufbar.