Herr Wolter, wir haben in den 00er Jahren den Boom des non-fiktionalen Formatfernsehens erlebt, dann kamen die 10er Jahre mit dem Serienhype und jetzt erleben wieder Reality-Formate und Shows einen Höhenflug. Kommt die non-fiktionale Welle zurück?

Was den Formatmarkt angeht, gebe ich Ihnen Recht. Durch den größer gewordenen Wettbewerb gelingt die Profilierung eines Senders beim Publikum nicht mehr durch das Abspielen einer gefühlt überall verfügbaren US-Serie. Also positionieren sich Sender wie Streamer besonders über Gesichter, über lokale Themen, über 360 Grad verwertbare Format-Marken, über Lautstärke und das Live-Momentum. Das sind die Themen, die den Markt gerade verändern.

Eine Entwicklung, die der Banijay Deutschland Gruppe gelegen kommt?

Eigentlich kommt uns jede Entwicklung einigermaßen gelegen, weil wir in fast jedem Genre in unterschiedlichen Teams an dessen Weiterentwicklung arbeiten. So ist der anhaltende Boom der Reality-Formate großartig, weil die Banijay-Gruppe in ihren verschiedenen Firmen starke Reality-Formate wie „Promi Big Brother“, „Temptation Island“, „Kampf der Reality Stars“ oder „Promis unter Palmen“ produziert. Das heißt aber nicht, dass nicht schon gleichzeitig der Hunger auf andere Programme wächst. Genre-Vielfalt ist uns wichtig. So haben wir z.B. aufbauend auf den enormen Erfolg von „The Masked Singer“ neue Ideen entwickelt, sind mit der Good Times unter Sylvia Fahrenkrog-Petersen eine feste Größe im Daytime-Programm und entwickeln mit der Made For unter Führung von Nanni Erben und Gunnar Juncken auch im Fiktionalen.

Aber das Fiktionale ist bei Banijay bislang noch ein zartes Pflänzchen oder?

Zart und sehr vielversprechend. „Frau Jordan stellt gleich“ oder der Dresdner „Tatort“ sprechen ja für sich. Nanni und Gunnar haben all unsere Unterstützung um ihre tollen Ideen umzusetzen.

Ist der Aufbau der Banijay Deutschland Gruppe denn abgeschlossen oder sind Sie z.B. im Fiktionalen weiter aktiv auf Suche nach weiteren Übernahmekandidaten?

Ein Aufbau ist für mich generell nie abgeschlossen. Die Entwicklung eines Verbundes von Kreativen ist ein dynamischer Prozess. Sehen Sie, der Markt um uns herum verändert sich doch stetig. Wer hätte vor zwei Jahren für möglich gehalten, mit welcher Power sich die Streaming-Marken und Mediatheken der klassischen Sender zu deutschen Netflixen und Amazons entwickeln? Also bleiben auch wir natürlich offen für talentierte Menschen, die eine kreative Heimat suchen.  

Über Marcus Wolter

  • Marcus Wolter, ein Nordlicht aus Hamburg, stand einst kurz vor der großen musikalischen Karriere, landete dann aber doch beim Fernsehen: Über die Produktionsfirma MME, den Musiksender VIVA und Brainpool landete Wolter 2002 bei der ProSiebenSat.1 Media AG, wurde dort Programmchef und spöter Geschäftsführer des Anrufsenders 9Live. 2008 wechselte er zurück auf die Produzentenseite, wurde Geschäftsführer bei Endemol Deutschland, gründete mehrere Tochterfirmen und fusionierte das Haus 2014 mit Shine Germany. Im Januar 2018 verließ er die Endemol Shine Germany, wurde später im Jahr CEO und Gesellschafter der Banijay Germany GmbH, übernahm auch die Führung der Produktionsfirma Brainpool und integrierte Endemol Shine Germany in die Banijay-Gruppe.

Wie sehr ärgert es Sie, dass Endemol Shine Germany zwischen Ihrem Weggang dort und der jetzigen Integration in die Banijay-Gruppe Köpfe wie Joko & Klaas oder Wiedemann & Berg verloren hat?

Die Gegenwart zu managen und die Zukunft zu gestalten ist Aufgabe genug. Da beschäftige ich mich nicht mit der Vergangenheit. Aber ich zolle Magnus Kastner und Team Respekt dafür, dass Endemol Shine in schwierigen Zeiten mit z.B. „The Masked Singer“ und „Promis unter Palmen“ starke Neustarts etabliert hat und Fabian Tobias ein gut aufgestelltes Team übernehmen konnte, mit dem er jetzt die Zukunft von Endemol Shine gestaltet. 

Sie haben mit der Banijay Deutschland Gruppe mitten in der Krise einen neuen Produktionskonzern geformt…

Wir sind ein Verbund starker Produzentinnen und Produzenten, aber kein Konzern.

…okay, woran machen Sie den Unterschied fest?

Wir haben markante, kantige und individuelle Kreative in Führungspositionen. Wir befürworten diese Eigenständigkeit und leben keine Konzern-Hierarchie. Das fördert individuelle Stärken, bedeutet natürlich auch individuelle Herausforderungen. Ich halte es aber für sehr gesund, wenn man innerhalb des Verbundes Freiheiten gewährt und auch in einem sportlichen Wettbewerb zueinander steht. 

Mit Brainpool, Banijay Productions, Endemol Shine Germany und Good Times haben Sie vier Labels, die sich am Formatkatalog von Banijay bedienen. Wie sinnvoll sind diese Doppelungen?

Sehr. Jede Firma hat ihre eigene Identität, Kultur und inhaltlichen Schwerpunkt. Das ergibt sich ja schon dadurch, dass Endemol Shine eine 25 Jahre alte Tradition hat und Banijay Productions erst vor 2 Jahren als Start-Up von Arno Schneppenheim aufgeschlossen wurde und seitdem eine rasante Entwicklung gemacht hat. Und ja, es gibt Wettbewerb um unsere Formate und ich fürchte als Brainpool-Geschäftsführer das Duell mit Arno Schneppenheim und Fabian Tobias - wenn es um Show- und Comedyformate geht - manchmal mehr als das mit externen Konkurrenten (lacht). Wir kultivieren Entrepreneurship, aber es geht immer um die Sache, die Show, das Format.

Wie viel von dem, was in den letzten drei Jahren passiert ist, haben Sie sich träumen lassen, als sie im Dezember 2017 bei Endemol Shine Germany von Bord gegangen sind?

(lacht) Mystische Fähigkeiten und Vorahnungen gehören nicht zu meinen Kernkompetenzen.

Auch wenn Sie kein Konzern sein wollen, haben sie Deutschlands größtes Produktionshaus neu geformt und die Branche fragt sich: Ist das ein sanfter oder selbstbewusster neuer Riese?

(überlegt) Ich glaube, jeder Partner und Auftraggeber möchte zunächst einmal, dass er ein überragendes Produkt bekommt. Da spielt es erstmal keine Rolle, wie groß das Unternehmen ist, dass es entwickelt. Im zweiten Schritt geht es um die Umsetzung, also die Frage, welcher Kopf und welches Team eine möglichst große Erfolgschance bietet. Überzeugen müssen also immer wieder unsere Ideen und Köpfe und da wäre es falsch aus Größe einen Vorteil abzuleiten. Was nicht heißt, dass wir nicht selbstbewusst sind.

"In diesem Jahr mussten wir zeitweise auf Sicht fliegen."

Mit den Firmen der Banijay Deutschland Gruppe sitzen Sie in ganz Köln verteilt. Soll das so bleiben?

Wir setzen nicht auf „One Banijay“, wir gehen den umgekehrten Weg. Meine Philosophie hat sich da nicht geändert: Wenn man wirkliche Talente gewinnen will, muss man ihnen kreative Freiheit, Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gewähren. 

Wie ist die Banijay Deutschland Gruppe bislang durch die Krise gekommen?

In diesem Jahr mussten wir zeitweise auf Sicht fliegen, mussten uns mit oft wechselnden Bedingungen arrangieren. Aber ich möchte mich an dieser Stelle nicht beschweren. Meine Solidarität gilt insbesondere den freien Kreativen unserer Branche, da ist die Not wirklich groß. Statt zu verzagen müssen wir großen Firmen gerade jetzt mutig sein: Unser Geschäft, Entertainment und Eskapismus, war nie so wichtig, so vielfältig verfügbar und nachgefragt wie heute. Und der Weg von Mülheim nach Los Angeles war noch nie so kurz wie heute. Mit einer richtig guten Idee sind wir alle ohne die Messen und das ganze Reisen nur eine Zoom-Call entfernt von einem Produktionsauftrag, ganz egal ob es ein deutscher Sender oder internationaler Streamingdienst ist. Der nächste Welthit made in Germany - das ist heute möglicher denn je.

Diese Euphorie wird man beim Live-Geschäft von Brainpool vermutlich nicht teilen.

Das Live-Geschäft ist natürlich eingebrochen und das ist eine große Herausforderung. Aber wenn ich an den ersten Lockdown denke, dann sind unter Extrem-Umständen so viele neue Projekte entwickelt und auch on air gebracht worden wie selten zuvor. „Fame Maker“, „Pretty in Plüsch“ und „Täglich frisch geröstet“ sind im Lockdown entwickelt worden. Der Free ESC wäre ohne die Pandemie nicht entstanden. Ich bin sehr stolz auf unsere Teams, die viel Neues geschaffen haben in schweren Zeiten.

Ist Ihre Arbeit systemrelevant? 

Absolut, ja. Unsere Branche erzählt Geschichten für viele Millionen Menschen, bietet ihnen Ablenkung, bringt sie zum Lachen oder Nachdenken und schafft in einem Jahr, in dem wir alle weniger beisammen waren als sonst trotzdem Gemeinschaftsgefühl bei einem Fernseh-Lagerfeuer wie z.B „The Masked Singer“, auf dessen Finale ich mich sehr freue. 

Bleiben wir kurz bei „The Masked Singer“: Welche Learnings lassen sich aus Ihrer Sicht aus dem überraschenden Erfolg ziehen?

Erstens: Eine außergewöhnliche und so im jeweiligen Markt noch nie probierte Idee findet auch im komplexen Wettbewerb Aufmerksamkeit. Daran glaubt nicht jeder. Und zweitens: Die Kraft der Bilder wird im Fernsehen überraschenderweise oft unterschätzt. Viele Shows liefern ähnliche, tausendmal gesehen Bilder, sind beim zappen kaum unterscheidbar. „The Masked Singer“ ist wiederum unverkennbar.

Und man versucht den großen Erfolg möglichst selbst noch mehrfach zu wiederholen, wenn ich an „The Big Performance“ oder „Pretty in Plüsch“ denke…

Das ist zu einfach gedacht. Bei uns hat jedes Format für sich den Anspruch, etwas Eigenes, etwas Neues mitzubringen. Natürlich lassen wir alle uns inspirieren von Eindrücken und bevor sich andere von unseren Shows inspirieren lassen, bauen wir auch selbst mal darauf auf. Es ist eines der Naturgesetze der Branche: Mit Zutaten, die gerade erfolgreich sind, verkauft man seine neuen Ideen nicht so schlecht.

"Wer den Anspruch hat, Marktführer zu sein, muss auch bei Investitionen in die Technologie führend sein."

Brainpool hat stets viele Rechte an seinen Produktionen zurückbehalten und damit einer Emanzipation von Produktionsfirmen vorweg genommen. Aber bei neuen Kunden wie den internationalen Streamingdiensten wird das kaum klappen, die wollen Total-buy-out…

Neben klassischen Auftragsproduktionen haben wir auch immer eigene Künstler aufgebaut und Marken entwickelt. In diesen Entwicklungen steckt so viel Aufbauarbeit, Zeit und Invest, dass für die Künstler und Entwickler dieser Marken andere Parameter wichtig sind als bei einer Auftragsproduktion. Wir werden weiterhin die gesamte Klaviatur der Modelle spielen, es ist aber nicht unerheblich, in welchem Stadium eines Projektes ein Partner an Bord kommt und wie hoch das Hit-Potential eingeschätzt wird.

Eine weitere Besonderheit von Brainpool: Die eigenen Studiokapazitäten. Jetzt als Banijay-Gruppe, wäre da ein Ausbau der Studio-Kapazitäten nicht sinnvoll?

Wir haben viel über kreative Freiheit gesprochen, aber eine weitere Stärke der Banijay Deutschland Gruppe ist natürlich der vorhandene Support bis hin zu eigenen Studio-Kapazitäten. Wer den Anspruch hat, Marktführer zu sein, muss auch bei Investitionen in die Technologie führend sein.

Und konkret auf die Studio-Frage bezogen?

Wir beschäftigen uns mit allen Optionen. Natürlich ist es eine Möglichkeit, die technische Infrastruktur auszubauen, auch mit eigenen Studio-Flächen.

Herr Wolter, herzlichen Dank für das Gespräch.