Manchmal ist es besser, abzuschalten. Oder eher: nicht einzuschalten. Zum Beispiel, wenn ein Buch verfilmt oder als Serie adaptiert wird, das man sehr gerne gelesen hat. Sally Rooneys Buch "Normale Menschen" hat mich so begeistert, dass ich es erstens zweimal gelesen habe und zweitens - als bekannt wurde, dass es eine Serie geben würde - mir vorgenommen hatte, diese nicht anzuschauen. Ich hatte Angst davor, dass die Serie mir dieses bestimmte Gefühl, das ich mit dem Buch verbinde, kaputt machen würde. Und dass ich mit den Figuren, die mir beim Lesen sehr nahe gegangen waren, fremdeln würde. Daher: nein, diese Serie würde ich auslassen, nahm ich mir vor. Serien auszulassen ist derzeit so einfach wie nie in den vergangenen Jahren - weil es so viele Serien gibt, dass es nur noch in seltenen Fällen die eine große Serie gibt, die alle schauen, über die alle reden. Also: nicht gucken, das war mein Vorsatz. 

Ach, ich bin ja gar nicht gut mit dem Einhalten von Vorsätzen. Ich rede mir ein, dass das damit zu tun hat, dass ich so unglaublich reflektiert bin. *Hüstel* Und daher Situationen und Gegebenheiten immer wieder neu bewerte und dann neue Schlüsse ziehe, die mögliche Vorsätze in Frage stellen. *Hüstel* Was ich sagen will: Ich habe die irisch-britisch-amerikanische Produktion "Normal People" doch geschaut. (Nach der Vorrede ist das keine Überraschung, ich weiß.) Der Grund für das Aufgeben meines Vorsatzes: Ich habe begeisterte Kritiken und Rezensionen gelesen und gehört, die von Menschen stammen, die vom Buch - genau wie ich - sehr bewegt waren. Und da ich nicht nur ein unglaublich reflektierter, sondern auch noch ein sehr neugieriger Mensch bin, habe ich reingeschaltet.

Sally Rooney erzählt die Geschichte einer besonderen Beziehung zwischen Connell (Paul Mescal) und Marianne (Daisy Edgar-Jones). Wir lernen die beiden kennen, als sie in einem kleinen Ort in Irland auf dieselbe Schule gehen und kurz vor ihrem Abschluss stehen. Er ist ein sehr guter Schüler, ein guter Sportler und überall beliebt. Sie ist ebenfalls eine sehr gute Schülerin, aber unbeliebt. Mariannes Familie ist reich und lebt in einem stattlichen Haus auf einem großen Anwesen. Connell lebt mit seiner Mutter in einem kleinen Reihenhaus, seine Mutter arbeitet als Putzfrau bei Mariannes Familie. Marianne und Connell - die in der Schule so tun, als würden sie sich kaum kennen - fangen heimlich eine Beziehung an. Nach ihrem Abschluss verlieren sie sich aus den Augen, treffen sich aber beim Studium in Dublin zufällig wieder. Es ist nur wenig Zeit vergangen, und doch scheinen sie andere Menschen zu sein - weil der soziale Status nun umgekehrt ist. 

Ich will nicht lange drum herum reden: Die Serie ist einfach großartig geworden. Sie entspricht mit wenigen Ausnahmen genau dem, was ich beim Lesen gefühlt habe. Klar, sehen die Locations und die Ausstattung anders aus, als ich mir das vorgestellt hatte. Aber die Bilder transportieren dasselbe Gefühl. Genau wie das Buch hat mich die Serie mit dieser Nähe, dieser Vertrautheit umhüllt und nicht wieder losgelassen, bis die Geschichte auserzählt war. Ich war bei jeder Szene, bei jedem Dialog hautnah dabei, habe gespürt, was in den Figuren vor sich geht, was in der Luft liegt. 

Denn das Besondere an diesem Buch ist aufs Medium Serie übertragen worden: diese unglaubliche Nähe. Ich habe mich selten beim Lesen Figuren so nah gefühlt wie Marianne und Connell in "Normale Menschen". Es ist erstaunlich, wie die Autorin diese komplexen Gefühlswelten der beiden Hauptfiguren mit wenigen Worten erschafft. Ich spüre sie einzeln, ich spüre sie als Paar. Beim Lesen bestimmter Szenen möche ich ihnen zurufen: Aber das meinst du doch gar nicht! Sag endlich, was du eigentlich sagen willst! Ich sitze quasi daneben und schlage mir die Hände vors Gesicht, aus Verzweiflung. 

Genau das hat auch die Serie "Normal People" geschafft. Dadurch, dass sie die Kamera in viele Einstellungen auf die Hauptfiguren konzentriert. Einer von beiden ist immer im Bild, womöglich sind beide zu sehen. In Szenen zwischen den beiden wird mit kurzen Einstellungen gearbeitet, die Kamera springt zwischen ihnen hin und her, in vielen Close-Ups und mit Unschärfen wird erreicht, dass alles außer den beiden unwichtig wirkt. Und wie gut sind bitte diese vielen Sex-Szenen gefilmt? Alles wirkt so normal und gleichzeitig so intim und besonders. 

Einen wichtigen Unterschied habe ich allerdings festgestellt: Im Buch bin ich Marianne näher gekommen. In der Serie dagegen Connell. Das kann drei Gründe haben. Es kann natürlich an mir liegen: Dadurch, dass ich mich beim Lesen mehr mit Marianne, ihrer Perspektive und ihren Gefühlen beschäftigt habe, habe ich mich beim Gucken unbewusst auf Connell konzentriert. Es kann auch daran liegen, dass im Drehbuch der Fokus etwas mehr auf Connell liegt. Die Fokusverschiebung kann aber nur graduell passiert sein, denn bewusst aufgefallen ist sie mir nicht.

Schließlich gibt es noch einen Grund: Paul Mescal spielt großartig. Denn das, was Dramaturgie, Regie und Kamera von Paul Mescal und Daisy Edgar-Jones verlangen, muss man erstmal liefern können. Diese Nähe, die hier erzeugt werden soll, müssen der Schauspieler und die Schauspielerin tragen können. Beide können das, ohne Zweifel. Aber ich habe den Eindruck, dass Paul Mescals Spiel für mich noch ein bisschen zugänglicher ist als das von Daisy Edgar-Jones. Die Art, wie er diesen zurückhaltenden, sensiblen Connell verkörpert, wirkt auf mich fast hypnotisch. Connell, der in seinem kleinen Heimatort ein anderer ist als an der Uni in Dublin. Sobald Connell im Bild ist, zieht er meine Aufmerksamkeit auf sich, weil ich spüren will, was er fühlt. Mescals Gesicht, sein Körper deuten die Gefühle nur an, doch durch die Close-Ups werden sie groß und prägen sich ein.

Wenn ich es zu entscheiden gehabt hätte: Für die Leistung in dieser Rolle hätte Paul Mescal den Emmy in der Kategorie "bester Hauptdarsteller in einer Mini-Serie/einem Film" verdient gehabt. Nominiert war Mescal, aber gewonnen hat Mark Ruffalo für seine Rolle in "I Know This Much Is True". Aber nachdem was Paul Mescal hier in "Normal People" gezeigt hat, bin ich mir ganz sicher, dass das nicht seine letzte Nominierung war.  

"Normal People" hat zwölf halbstündigen Episoden. Die Serie gibt's in Deutschland bei Amazon im Starzplay-Channel.