Wie man hört, muss es RTL plötzlich sehr eilig gehabt haben. Schon seit einiger Zeit plante man in Köln, die aus Südkorea stammende Gesangsshow "I Can See Your Voice" nach Deutschland zu holen. Dann aber kündigte ProSieben vor wenigen Wochen an, mit "FameMaker", produziert von Stefan Raab, ein ganz ähnlich angelegtes Show-Konzept starten zu wollen. Um der Konkurrenz in jedem Fall zuvorzukommen, geht die neue Sendung schon in dieser Woche innerhalb von zwei Abenden über die Bühne. 

Doch hat es sich gelohnt, derart auf die Tube zu drücken? Nach der Premieren-Ausgabe lässt sich sagen: Geschadet hat es ihr jedenfalls nicht. Die Produktionsfirma Tresor TV hat eine sehr stimmige Adaption auf die Beine gestellt, die mit einer Länge von zwei Stunden nicht nur erfreulich kompakt daherkommt, sondern vor allem abwechslungsreich ist und mit immer neuen Überraschungsmomenten einen in sich stimmigen Spannungsbogen schafft.

Bemerkenswert ist, dass RTL vor der Kamera nicht nur auf hauseigenens Personal setzt. Natürlich sitzen da der Jury-erprobte Jorge González, TV-Koch Tim Mälzer und die omnipräsente Evelyn Burdecki, deren Daytime-Show-Luftballon gerade wohl für immer in den Giftschrank wanderte. Aber überraschend hat der Sender auch den hauptberuflichen Quatschmacher Thomas Hermanns und die seriröse "Tagesschau"-Sprecherin Judith Rakers ins Rateteam geholt, was eine abwechslungsreiche Mischung verspricht.

I Can See Your Voice

Sasha, "Superfan" Nicole und Moderator Daniel Hartwich (Foto: RTL / Frank W. Hempel)

Die ist auch nötig, immerhin ist bei "I Can See Your Voice" kein musikalisch geschultes Gehör gefragt, sondern Menschenkenntnis. Die Stimme der Kandidaten, die sich zum Singen auf die Bühne trauen, ist nämlich zunächst gar nicht zu hören. Stattdessen gilt es über mehrere Runden hinweg von Lip Sync über Lügengeschichten bis hin zum Kreuzverhör zu erraten, wer ein guter Sänger ist und wer bloß vorgibt, einer zu sein. Denn nur wenn eine starke Stimme am Ende zusammen mit dem Profi-Sänger nach der lautstarken Aufforderung "Zeig! Uns! Deine! Stimme!" (was im Übrigen der bessere Show-Titel gewesen wäre) auf der "Bühne der Wahrheit" performt, gewinnt dessen "Superfan" 10.000 Euro. Setzt sich der Schwindler durch, geht das Geld an ihn.

In der Premieren-Folge war es Popsänger Sasha, der einen langjährigen Fan dabei unterstützte, die gesangliche Spreu vom Weizen zu trennen, was zwischenzeitlich mal mehr und mal weniger gut funktionierte. Den als "Luftgitarrenrocker" getarnten Bürohengst als gesangliche Niete zu enttarnen, war zugegebermaßen nicht so schwer. Dass eine Bodybuilderin jedoch so gut singt, dass sie einst sogar gemeinsam mit Jermaine Jackson auf der Bühne stand, kam da schon weitaus überraschender. Ganz zu schweigen vom unscheinbaren Schweizer Straßenmusiker, der kurz vor dem Ende der Show das gesamte Studio mit seinem musikalischen Talent zum Toben brachte.

Die Aerosole fliegen durchs Coloneum

Und so weiß "I Can See Your Voice" ohne nennenswerte Längen in gutem Tempo zu unterhalten. Dazu trägt auch der Ratespaß bei, den das beratende Promi-Panel an den Tag legt. Insbesondere Tim Mälzer erweist sich trotz fehlender Musikalität als wahrer Glücksfall, der sich sogar traut, den abwesenden RTL-Übervater Dieter Bohlen aus der Ferne als "faltiges Linksaußen" von "DSDS" zu grüßen, was den ungewohnt gelösten Daniel Hartwich prompt zu einer weiteren Spitze gegen den "Poptitan" verleitet. Als einer der Sänger zum Schluss im Kreuzverhör nach den vier bekanntesten Akkorden gefragt wird, gibt sich der Moderator verblüfft: "Es gibt vier? Das muss ich Dieter Bohlen erzählen. Der kennt nur drei."

Schnell überträgt sich die gute Stimmung aller Beteiligten auch auf die Publikumsränge, die angesichts der anhaltenden Corona-Pandemie erstaunlich gut gefüllt sind, mit rund 50 Zuschauern pro Block aber offenbar den aktuellen Vorgaben entsprechen. Bemerkenswert ist allerdings, wie laut die Schreie und der Jubel der anwesenden Zuschauer ausfallen - man kann förmlich erahnen, wie die berühmt-berüchtigten Aerosole durchs Coloneum fliegen. Einzig Judith Rakers scheint sich etwas schwer damit zu tun, die Rolle der Ratefüchsin einzunehmen. Sie wirkt inmitten ihrer lauten Mitstreiter stets ein wenig verloren. Das gibt jedoch allenfalls Abzüge in der B-Note.

Für den Höhepunkt sorgt schließlich der letzte Auftritt des Abends, immerhin ist bis zum Schluss nicht klar, ob der verbliebene "Knochenbrecher" über jene große Stimme verfügt, die alle Beteiligten von ihm erwarten. Und tatsächlich: Im Duett mit Sasha bringt Physiotherapeut Sebastian alle Anwesenden vollends zum Beben - und rührt nicht nur den reicher gewordenen "Superfan" zu Tränen. Es ist schon erstaunlich, mit welch simplen Ideen es der Sendung gelingt, bei Kandidaten, Promis und Zuschauern gleichermaßen positive Emotionen auszulösen.

Man mag es kaum glauben, doch RTL ist es mit "I Can See Your Voice" gelungen, die Vielzahl an existierenden Musikshows um eine neue und zugleich spannende Facettte zu erweitern. Der Sender hat im wahrsten Sinne des Wortes den richtgigen Ton getroffen. Nun bleibt abzuwarten, ob Stefan Raabs "FameMaker" diesen gelungenen Neustart toppen kann.

RTL zeigt die zweite Folge von "I Can See Your Voice" bereits am Mittwoch um 20:15 Uhr