Es sollte der größte Serienstart werden, den HBO Europe bislang erlebt hatte. Zeitgleich in 62 Ländern sollte am 17. Mai "Patria" anlaufen, die erste fiktionale Eigenproduktion von HBO España. Neben den HBO-Europe-eigenen Pay-TV-Kanälen und Streaming-Plattformen in 21 europäischen Ländern wollten auch HBO Now, HBO Go, HBO On Demand und HBO Latino in den USA sowie die 40 Märkte von HBO Latin America mit einsteigen. Am heutigen Sonntag wäre überall dort die fünfte von insgesamt acht Episoden zu sehen gewesen.

Doch dann kam die Corona-Pandemie und brachte die Postproduktion in Spanien zum Erliegen. "Wir wollten 'Patria' wirklich gern mit euch teilen", twitterte HBO España Ende März, "aber um die Sicherheit unserer Postproduktionsteams zu garantieren, sind wir gezwungen, den Starttermin zu verschieben." Noch steht kein neues Datum fest. Da "Patria" jedoch für den Wettbewerb der Series Mania ausgewählt war (DWDL.de berichtete) und die ersten zwei Folgen seither fertig vorliegen, empfehlen wir das Werk von Creator und Produzent Aitor Gabilondo auf dieser Basis als eine der besten europäischen Serien des Jahres.

Zwar spannt die Serie einen erzählerischen Bogen über 30 Jahre separatistischen Terror im Baskenland, doch sie konzentriert sich dabei – zwischen mehreren Zeitebenen springend – mit größtmöglicher Nähe und Dichte auf zwei Familien in einem Dorf, die vom Terror auseinanderdividiert wurden. Noch präziser: auf Bittori und Miren, die beiden Mütter und Ehefrauen, die von Freundinnen zu Feindinnen wurden, weil der Mann der einen von der ETA ermordet wurde und der Sohn der anderen einem ETA-Kommando angehörte. Die Untergrundorganisation, deren Abkürzung für "Baskenland und Freiheit" stand, hatte im November 2011 einen Waffenstillstand mit der spanischen Regierung ausgehandelt, der 2017 zur vollständigen Entwaffnung und 2018 zur Selbstauflösung der ETA führte. 

Die Handlung von "Patria" steigt an jenem Tag ein, an dem der Waffenstillstand verkündet wird. Bittori besucht an diesem Tag das Grab ihres Mannes Txato, der einst als mächtiger Unternehmer vor ihren Augen von den Terroristen erschossen wurde. Sie teilt ihm ihre Entscheidung mit, wieder in ihr altes Dorf und ihr altes Haus zurückzukehren, wo sie bis zum Anschlag gemeinsam gelebt hatten. Bittori hat Krebs und will mit der Vergangenheit abschließen, wohl wissend, dass es nicht leicht für sie wird, Tür an Tür mit den Ex-Terroristen zu wohnen. Was sie außerdem will: herausfinden, wer damals der vermummte Attentäter war.

Die zweite Perspektive, aus der "Patria" erzählt, ist die von Miren, Bittoris Nachbarin und früherer Freundin. Bei ihr sorgt Bittoris Rückkehr für Wut und Chaos. Ihr Sohn Joxe Mari sitzt als verurteilter Terrorist im Gefängnis. Der mutmaßliche Mord an Txato konnte ihm nie nachgewiesen werden, andere schwere Straftaten mit seiner ETA-Zelle dagegen schon. Bittoris Anwesenheit reißt Wunden auf, die noch gar nicht verheilt waren. Langsam vortastend, mitunter gar quälend analytisch, setzt die Serie Bruchstücke aus der Vergangenheit zusammen, um aufzuzeigen, was die Frauen und ihre Familien auseinandertrieb. Dabei spielen tief verwurzelte politische und gesellschaftliche Überzeugungen eine wesentliche Rolle, und Gabilondo macht sich die Mühe, diese nicht nur genau auszudeuten, sondern auch die jeweiligen Motive seiner Figuren nachvollziehbar erscheinen zu lassen.

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Als Vorlage diente ihm der 2016 erschienene gleichnamige Roman von Fernando Aramburu, einem in Hannover lebenden baskischen Schriftsteller. Sein 760 Seiten starkes "Patria" stand über ein Jahr an der Spitze der spanischen Bestsellerlisten und wurde in 20 Sprachen übersetzt. So wie es dem Buch als erstem fiktionalen Werk gelang, die jahrzehntelange blutige Entzweiung der Gesellschaft breitenwirksam aus der Binnenperspektive eines dramatischen Familienkonflikts zu verarbeiten, schafft dies nun auch die Serie. Gabilondo selbst bezeichnet den Bogen seines Achtteilers als "Reise in Richtung einer Umarmung".

Der optimistische Unterton, der aus dieser Formulierung spricht, ist auf der Gegenwartsebene der Serie immer wieder spürbar. Bittori und Miren – eindringlich und feinfühlig gespielt von Elena Irureta und Ane Gabarain – stehen stellvertretend für eine Gesellschaft, die vom politischen Fanatismus noch stark erschüttert ist und erst langsam lernen muss, einander zu vergeben. Die eigentliche psychologische Spannung von "Patria" liegt somit darin, ob der höchst zerbrechliche Wiederannäherungskurs der beiden Hauptfiguren gelingen kann.

In einer modernen Welt, die den konkreten ETA-Terrorismus überwunden haben mag, jedoch allerorts mit Abgrenzung und Isolationismus zu kämpfen hat, trifft diese Frage voll ins Schwarze. Hoffen wir, dass die "Patria"-Macher ihre Arbeit bald vollenden können und sich auch ein deutscher Sender für ihr Werk findet.