Der Mann, dessen Gesicht in extrem naher Einstellung den Bildschirm füllt, legt dem Zuschauer sein Bekenntnis ab. Er habe die explosive Mischung aus Wut und Depression in sich aufsteigen gefühlt, "wie ein Terrorist". Alain Delambre, Mitte 50, schlägt sich seit sechs Jahren mit Hilfsarbeiterjobs durch, nachdem er seinen Posten als Personalchef verloren hat. Seine Familie droht daran zu zerbrechen. Wie Alain, gespielt von Eric Cantona, eine vermeintlich große Chance bekommt, die ihn erst recht in Richtung Abgrund führt, erzählt die fesselnde französische Psychothriller-Serie "Inhuman Resources".

Eigentlich hätte der Sechsteiler von Autor Pierre Lemaitre und Regisseur Ziad Doueiri vorige Woche auf der Series Mania in Lille seine Weltpremiere feiern sollen – als einer von zehn Kandidaten im offiziellen Wettbewerb von Europas größtem Serienfestival. Eine internationale Fachjury unter Vorsitz von Tom Perrotta, Creator der HBO-Serien "The Leftovers" und "Mrs. Fletcher", hätte über den Preisträger entscheiden sollen. Wie so viele Großveranstaltungen fiel auch diese der Corona-Pandemie zum Opfer.

Führt man sich den hohen Stellenwert vor Augen, den Festivalpremieren und Koproduktionsmärkte für die globale Serienindustrie haben, dann wird klar, wie schmerzlich der Verlust ist. Ob Series Mania, Berlinale Series Market oder ähnliche Branchentreffs – hier findet inzwischen ein wesentlicher Teil der Versorgungskette von der anfänglichen Partnersuche bis zum Vertriebsmarketing fürs fertige Produkt statt. Angesichts der kompetitiven Angebotslage kann die Auswahl für ein Festival – oder gar eine Auszeichnung – Serien dabei helfen, aus der Masse hervorzustechen. "Wir wollen uns dem Virus nicht geschlagen geben und das Business am Laufen halten", sagt Series-Mania-Direktorin Laurence Herszberg in einer Videobotschaft. Zumindest einen Teil ihres geplanten Programms macht sie dem Fachpublikum nun für zwei Wochen digital zugänglich.

Aus der Spur© Arte/Stephanie Branchu
Die Macher von "Inhuman Resources" haben dabei noch Glück im Unglück, da ihre TV-Premiere ohnehin kurz bevorsteht: Arte zeigt die ersten drei Folgen am 23. April, die zweite Hälfte eine Woche später, in Deutschland unter dem Titel "Aus der Spur". Außerhalb von Frankreich und Deutschland läuft die Serie bei Netflix. Die eskalierende Geschichte des arbeitslosen Ex-Managers verkörpert einen unübersehbaren Trend, der sich quer durch den 2020er Jahrgang zieht – eine verstärkte Hinwendung zu den innersten menschlichen Konflikten, die im personellen Kleinstrahmen eines Paars, einer Familie oder gar nur einer einzigen Person verhandelt werden. Zwar gerät Alain so weit "aus der Spur", dass er in der Hoffnung, Personalrecruiter für einen internationalen Konzern zu werden, an einer fingierten Geiselnahme mitwirkt, die Top-Manager auf Stressresistenz und Loyalität testen soll, dann aber zur echten Geiselnahme mit echten Waffen ausufert. Doch anstatt aufs große Action-Feuerwerk zu setzen, kommt der Thrill in erster Linie aus Alains Kopf und der dort verorteten Radikalisierung. Regisseur Doueiri setzt wie schon bei der Erfolgsserie "Baron Noir" ganz auf Handkamera und Steadicam, um seiner Hauptfigur mitunter schwindelerregend nah zu bleiben.

Derartige Verdichtung auf einen engen dramatischen Kern scheint zumindest im oberen Qualitätssegment für den Moment die epischeren Formen mit breit aufgestellten Sozialtableaus oder Dystopie-Szenarien abzulösen. Es mag als Zeichen unserer Zeit gelten, dass Fragen und Verwirrungen in unserem tiefsten Innern komplex genug sind, um relevanten Serienstoff herzugeben. Vielfach rücken frische, ungewöhnliche Perspektiven ins Zentrum dieser Nahraum-Betrachtungen. Da erzählt etwa Lucy Kirkwood ("The Smoke") in ihrer britischen Channel-4-Miniserie "Adult Material" eine Hauptfigur, die sowohl erfolgreiche Pornodarstellerin und -unternehmerin als auch fürsorgliche Familienmutter ist und in beiden Welten mit den Feinheiten von sexuellem Einverständnis sowie Selbstbestimmung konfrontiert wird. Der von der Endemol-Shine-Tochter Fifty Fathoms produzierte Vierteiler mit Hayley Squires und Rupert Everrett arbeitet sich nicht am großen Ganzen der Pornoindustrie ab, sondern konzentriert sich mit einer gewissen Lakonie darauf, wie die beiden Familien – die echte und die berufliche – ihre Spannungsverhältnisse untereinander aushandeln.

"Borgen"- und "The Legacy"-Autorin Maja Jul Larsen greift in ihrem achtteiligen Familiendrama "Cry Wolf", das im Herbst im dänischen Fernsehen laufen soll, das Thema häusliche Gewalt auf – in einer feinfühligen Gegenüberstellung verschiedener Blickwinkel. Ob die Aussagen eines 14-jährigen Mädchens, die zum harschen Eingreifen des Sozialamts führen, wirklich glaubwürdig sind, bildet hier den zentralen Konflikt, der die Familienmitglieder und den zuständigen Sozialarbeiter mit ihren jeweils eigenen moralischen Dilemmata konfrontiert.

Patria© HBO Europe
Und noch eine weitere Serie aus dem Wettbewerb der Series Mania unterstreicht den Trend vortrefflich: "Patria", die bislang größte Eigenproduktion von HBO España, die Mitte Mai in Spanien anläuft, spannt einen erzählerischen Bogen über die letzten zehn Jahre des separatistischen Terrors im Baskenland bis zur Auflösung der ETA. Aber eben nicht breit, episch, umfassend – sondern hoch konzentriert auf zwei Frauen in einer Kleinstadt, deren Familien vom Terror auseinanderdividiert wurden, weil der Mann der einen ermordet wurde und der Sohn der anderen einem ETA-Kommando angehörte. Um die Motive von Rache und Vergebung, Verbitterung und menschlicher Güte zu sezieren, verlegt Creator Aitor Gabilondo ("El Príncipe") die dringlichsten Kämpfe des Achtteilers in die innere Gefühlswelt seiner beiden Hauptfiguren auf einem zerbrechlichen Wiederannäherungskurs.

Schon jetzt scheint klar, dass das Prinzip der konzentrierten Innensicht eine Fortsetzung findet, denn es taucht auch unter manchen der Entwicklungsprojekte auf, die eigentlich vorige Woche in Lille auf der Suche nach Koproduzenten und Vertriebspartnern gepitcht werden sollten. Stattdessen haben nun viele der Macher kurze Videos aufgenommen, in denen sie ihre Ideen vorstellen. Vom expliziten Wunsch nach Perspektivwechsel spricht etwa der belgische Autor und Regisseur Matthieu Donck, der gemeinsam mit Stéphane Bergmans und Benjamin d'Aoust hinter der 2016 auf der Series Mania ausgezeichneten Krimiserie "The Break" (zwei Staffeln bei Netflix) stand. Jetzt hat das Trio eine schwarzhumorige Krimikomödie mit dem Arbeitstitel "Good People" in der Mache.

My First Family© Haut et Court/Quiddity
"Nach 'The Break' wollten wir die Seiten wechseln und eine Geschichte über an sich gute Menschen erzählen, die plötzlich anfangen, böse Dinge zu tun", so Donck. Statt Mord soll es diesmal nur um einen Versicherungsbetrug gehen, allerdings als übersteigerte Farce à la "Fargo", die sich vor allem den menschlichen Beweggründen widmen soll, wieso man in Panik eine falsche Entscheidung trifft, ohne dabei die Konsequenzen zu bedenken. Dass 'high concept' und enger Fokus sich nicht ausschließen, soll das französisch-israelische Projekt "My First Family" der Produktionsfirmen Haut et Court TV ("The New Pope") und Quiddity ("Milk & Honey") unter Beweis stellen. Die Autoren Maya Zaydman ("Our Boys") und Ori Sivan ("In Treatment") siedeln ihren Achtteiler in einem alternativen Frankreich an, wo man nur dann Kinder haben darf, wenn man zuvor eine Elternlizenz erworben hat. Protagonistin Claire, Mitte 30, ist Gutachterin in einem staatlichen Zentrum, das die Elterntauglichkeit prüft. Als sie selbst schwanger wird, verheimlicht sie das, weil sie befürchtet, ihre eigenen Tests nicht zu bestehen. "Claire mag in einer alternativen Welt leben", so Zaydman, "doch ihr Dilemma steht jenseits von Zeit und Raum: Habe ich das Zeug dazu, eine gute Mutter oder ein guter Vater zu sein? Wir wollen tief in unsere härtesten Fragen über Elternschaft hineinbohren."

Mit deutscher Beteiligung sind drei der insgesamt 16 ausgewählten Serienprojekte auf der Suche nach weiteren Partnern: Producers at Work plant gemeinsam mit All3Media die historische Crime-Serie "Die Insel", die in die West-Berliner Punk- und Protestkultur von 1979 eintauchen soll (Buch: Anders August und Alexander Rümelin). Zeitsprung Pictures widmet sich in einer Koproduktion mit AT-Prod aus Belgien, "The Black Lady", der widersprüchlichen Biografie von Magda Goebbels (Buch: Hélène Duchateau, Regie: Viviane Andereggen). Und Rohfilm Factory will in "Transitniki" die wahre Geschichte von jungen DDR-Bürgern erzählen, die im Sommer 1985 zu einer illegalen Abenteuerreise in den Osten der Sowjetunion aufbrachen (Buch: Heide Schwochow, Constantin Lieb, Christian Mackrodt).