Herr Schreiber, wie lange dauert es, einen schwarzen ESC-Abend wie jenen im vorigen Jahr zu verarbeiten?

Rational geht das relativ schnell, es kommt ja auch nicht vollkommen überraschend; emotional dauert es ein wenig länger. Mit den Vorbereitungen für den Eurovision Song Contest 2020 hatten wir allerdings bereits begonnen, lange bevor der Eurovision Song Contest 2019 stattgefunden hat.

Warum so früh?

Wir wissen, wie schnell so ein Jahr vergeht und vor allem, wie viel Zeit man für bestimmte Prozesse wie Inszenierung benötigt. Daher haben wir schon im März vergangenen Jahres nach dem sogenannten "Head of Delegation"-Meeting in Tel Aviv, bei dem Songs und Künstler vorgestellt werden, insgesamt neunzehn aktuelle ESC-Lieder ausgewählt und mit Videos ihrer Live-Auftritte rund 2,26 Millionen Menschen in den sozialen Netzwerken angesprochen. Immerhin 15.000 davon haben sich die Zeit genommen, um ihre individuellen zehn Lieder in eine Reihenfolge zu bringen. Zu einem Zeitpunkt, zu dem nur in den allerengsten Fanzirkeln eine klare Priorisierung bestand, hatten wir auf diese Weise bereits ein möglichst vorurteilsfreies Urteil über die Songs. Das haben wir in einer elektronischen Schublade aufbewahrt und eine Woche nach dem ESC-Finale wieder herausgeholt.

Wie ging es dann weiter?

Wir haben abgeglichen, wer von unseren Befragungsteilnehmern mit seiner persönlichen Rangliste dem Televotingergebnis von Tel Aviv am nächsten gekommen ist. Davon haben wir uns wiederum die besten 100 Leute herausgesucht, die für uns den Zuschauergeschmack abbilden, die sogenannte Eurovisions-Jury.

Sind diese 100 Stimmen mehr wert als die Stimmen der Zuschauer, die in den vergangenen Jahren beim Televoting des Vorentscheids angerufen haben?

Das will ich nicht vergleichen. Diese 100 Stimmen stehen einfach für eine andere Herangehensweise.

Es wird also in diesem Jahr keinen klassischen Vorentscheid im Fernsehen geben?

Der Vorentscheid war mit einem großen Aufwand verbunden, aber nicht mit einer so großen Reichweite, wie wir sie uns gewünscht hätten. Für das Publikum war die Show schlicht nicht so relevant wie der eigentliche ESC. Dazu kommt die Frage, wer sich den Vorentscheid überhaupt ansieht. Da lohnt es sich, einen Blick auf die genauen Anrufzahlen zu werfen.

Was meinen Sie damit?

Wir haben im vergangenen Jahr gehashte Telefonnummern der Menschen, die beim Vorentscheid angerufen haben, vergleichen lassen mit den gehashten Telefonnummern der Menschen, die beim ESC-Finale aus Deutschland heraus angerufen haben. Dabei stellten wir fest, dass es eine extrem kleine Schnittmenge gibt. In absoluten Zahlen gesprochen hatten wir bei "Unser Lied für Israel" 163.102 Anrufer, die 374.313 Stimmen abgegeben haben. Von ihnen haben nur 26.794 Menschen auch beim ESC mitgemacht - bei insgesamt 406.886 Anrufern aus Deutschland. Das heißt, 93,4 Prozent aller Anrufer aus Deutschland, die für den ESC 2019 in Tel Aviv angerufen haben, haben sich beim Vorentscheid nicht zu Wort gemeldet. Außerdem lässt sich durch das Verhältnis von verschickten SMS zu Anrufen erkennen, dass das Publikum beim Vorentscheid eher älter ist, während es beim ESC genau umgekehrt ist.

Was schließen Sie daraus?

Beide Shows scheinen zu einem großen Teil unterschiedliche Zielgruppen anzusprechen. Für ein erfolgreiches Abschneiden beim ESC ist es aber entscheidend, eine Einschätzung von denen zu haben, die sich am Voting beim ESC-Finale beteiligen. Dadurch kamen wir auf die 100-köpfige Zuschauer-Jury, die in diesem Jahr zusammen mit einer 20-köpfigen Fachjury den deutschen Act bestimmt. Wichtig ist mir zu betonen, dass da niemand vom NDR und keiner unserer Partner mitentschieden hat. Durch die Eingrenzung auf diese Form des Publikumsgeschmacks bin ich mir sicher, einen Act und Song gefunden zu haben, der international nicht chancenlos sein wird.

"Durch die frühe Entscheidung waren wir auch deutlich frühzeitiger als sonst in der Lage, international renommierte Leute anzusprechen."
Thomas Schreiber

Aber wie wollen Sie eine Euphorie beim Publikum auslösen, wenn gerade einmal 100 Fans am Auswahlprozess beteiligt waren?

Natürlich ist mir bewusst, dass wir mit der bisherigen Informationsverknappung manche Menschen verärgert haben. Gleichzeitig hoffe ich, dass wir auch Neugierde für das geschaffen haben, was kommen wird. Am 27. Februar werden wir in Hamburg in Form eines Events und einer Show bei ONE den Act und den Song vorstellen, mit dem wir nach Rotterdam fahren werden. Im Zuge dessen hoffen wir auf eine breite Berichterstattung, zudem wird der Song von diesem Tag an im Radio zu hören sein. Dazu kommen Auftritte im Fernsehen und wir arbeiten daran, auch international für Aufmerksamkeit zu sorgen. Das Video mit Barbara Schöneberger, das wir gerade veröffentlicht haben, gibt es beispielsweise auch in einer englisch und niederländisch untertitelten Version. So wollen wir im Nachhinein Transparenz über unseren Prozess herstellen und die ESC-Fans auch ohne klassischen Vorentscheid mit ins Boot holen.

Wie genau wurden Künstler und Song denn gefunden?

Das ist für Sie unbefriedigend, aber ich würde gerne auf den nächsten Montag verweisen. Wir werden von jetzt an wöchentlich ein kleines Video veröffentlichen, in dem wir unser Vorgehen erklären – nächste Woche in Form eines Fachwissenschaftlers im fiktiven ESC-"Institut", der den Fans einen Vorgeschmack gibt, wie die Jurys gearbeitet haben und aus welchem Pool von Künstlern und Kompositionen sie ihre Entscheidungen getroffen haben. Alle Details dann am 27. Februar.

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Seit wann steht die Entscheidung fest?

Seit dem 12. Dezember kennen wir unseren Act und den deutschen Song, der im Mai in Rotterdam zur Aufführung kommt. Unmittelbar nach dieser Entscheidung haben wir uns mit allen Beteiligten getroffen, um die nächsten Schritte zu besprechen. Durch die frühe Entscheidung waren wir auch deutlich frühzeitiger als sonst in der Lage, international renommierte Leute anzusprechen, die Erfahrung mit der Inszenierung eines Music-Acts auf einer Fernsehbühne haben. Das ist ein großer Vorteil gegenüber den vergangenen Jahren, denn diejenigen, die die Inszenierungsideen entwickeln, müssen den Song kennen und wissen, wer da überhaupt auf der Bühne steht. Seit Anfang Januar gab es daher eine Reihe von Meetings, in denen wir uns einem Vorschlag genähert haben, von dem wir der Meinung sind, er ist der beste für diesen Song.

Wie groß ist der Anteil der Inszenierung am Erfolg beim ESC?

Da gibt es keine wissenschaftliche Untersuchung, aber aus meiner Erfahrung heraus ist die Inszenierung extrem wichtig. Natürlich muss der Mensch, der auf der Bühne steht, live singen können. Wer nicht singen kann, hat's schon mal schwer. Und natürlich muss das Lied mitreißend sein und die Zuschauer ansprechen. Zunächst einmal aber ist der Eurovision Song Contest jedoch eine Fernsehsendung – und das Bild ist stärker als alles andere. Einer der größten Fernsehmomente der vergangenen Jahre war sicher die Inszenierung von "Heroes" von Måns Zelmerlöw. Der Song war wohl nicht der abwechslungsreichste aller Zeiten, aber es war ein genialer Auftritt. Letztlich gibt es ganz unterschiedliche Formen der Inszenierung - denken Sie an Loreen oder Conchita. Entscheidend ist, dass Lied, Protagonist und Inszenierung stimmig sind. Bei Michael Schulte ist uns das hervorragend gelungen, aber leider nicht in jedem Jahr.

Woher nehmen Sie persönlich die Motivation, es jedes Jahr aufs Neue beim Eurovision Song Contest zu versuchen?

Der Eurovision Song Contest ist für mich die großartigste Fernsehsendung der Welt. An der Show nehmen 40 europäische Länder und Australien teil – es ist der einzige Abend, an dem ganz Europa vor dem Fernseher zusammenkommt. Anders als bei der Fußball-Weltmeisterschaft, bei der man sich meist für die eigene Mannschaft begeistert, fiebert hier wirklich jeder Zuschauer mit. Es gibt intime Momente wie bei Salvador Sobral und die großen politischen Gesten wie bei Conchita - zur selben Zeit in ganz Europa. Dieses europäische Moment, die Buntheit und Vielfalt – das ist Ausdruck von Freiheit. Und wenn man einen Erfolg hat und sieht, welches Lächeln ein gutes Ergebnis in die Gesichter der Menschen zaubern kann, dann zeigt das: Fernsehen lebt und kann auch heute noch ein Lagerfeuer sein. Über alle Generationen hinweg.

Herr Schreiber, eine Frage noch: Die ARD hat den Vertrag zur Übertragung der Bambi-Verleihung nicht verlängert. Warum?

Das waren sehr rationale Überlegungen. Ich bitte aber um Verständnis, wenn ich vertrauliche und offene Diskussionen, die wir intern geführt haben, nicht im Nachhinein öffentlich mache.

Vielen Dank für das Gespräch.