Herr Gansel, Sie waren Regisseur des Films "Die Welle" von 2008 und Produzent der kürzlich erschienenen Netflix-Serie "Wir sind die Welle". Welchen neuen Aspekt hatte "The Invisible Line - Die Geschichte der Welle" für Sie inne?

Dennis Gansel: Auch wenn ich nicht an der Produktion der Dokumentation beteiligt war, fasziniert mich das Thema ungemein. Ich habe damals unfassbar viel für "Die Welle" recherchiert und die ganze Geschichte nun noch einmal mit den wahren Protagonisten aufbereitet zu sehen, ist hochspannend. Das hat in der Reihe der "Welle"-Produktionen noch gefehlt. Jetzt steht nur noch eine Serie über das Originalexperiment aus – etwas, das ich Netflix ganz am Anfang sogar gepitcht hatte. Jeder Tag, an dem das Experiment lief, sollte eine Folge in der Serie werden. Das ist nach wie vor eine gute Idee, die Netflix zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht wollte.

Wie sehr hat Sie die Vorarbeit von "Die Welle" beeinflusst, Herr Rotstein?

Emanuel Rotstein: Dieser Spielfilm hat den Weg der Bekanntheit für dieses Experiment geebnet. Wir haben jetzt die Geschichte zum Film erzählt. Da ist der Roman von Morton Rhue beinahe schon in den Hintergrund gerückt. Ich bin aber dennoch, wohl ebenso wie Dennis, mit dem Buch in der Schule groß geworden. Es war der Pflichtkanon im Gymnasium, wenn es darum ging, sich mit dem dritten Reich zu beschäftigen. Dementsprechend hat es mich natürlich ebenso stark geprägt und bis heute nicht losgelassen. Ich wollte schon immer wissen, was die Deutschen dazu getrieben hat, so zu agieren und wieso sie sich nicht gegen den Nationalsozialismus gestellt haben. Als ich Ron Jones vor einem Jahr durch Zufall bei einer anderen Produktion kennengelernt hatte, habe ich festgestellt, dass es im Rahmen des Spielfilms und des Buchs keine umfassende, dokumentarische Aufarbeitung gibt. Deswegen wollte ich wissen, was für einen Eindruck dieses Experiment hinterlassen hat – auch 50 Jahre später noch.

Ist die Veröffentlichung von "The Invisible Line" heutzutage möglicherweise sogar wichtiger, als die Premiere der "Welle" von vor elf Jahren?

Gansel: Dass "Die Welle" damals vor über zehn Jahren in die Kinos kam war absolut wichtig. Schulen nutzen den Film, um anschaulich zu verdeutlichen, dass so etwas nicht mehr passieren darf. Die Dokumentation erscheint nun aber in einer Zeit, in der Populismus ein immer größeres Thema wird und in der nationale Parteien erstarken – nicht nur europaweit, sondern weltweit. Wir werden immer sensibler, was diese Thematiken angeht und "The Invisible Line" schafft es dadurch, einfachste psychologische Mechanismen im Menschen auszulösen.

Nachdem Sie sich eingängig mit diesem Thema auseinandergesetzt haben: Könnte "Die Welle" auch heute noch funktionieren?

Gansel: Es gab im vergangenen Jahr die Meldung aus Österreich, dass eine Lehrerin das Experiment nach dem Durcharbeiten des Buchs und dem Anschauen des Films ebenfalls mit ihren Schülern inszenierte. Sie war sich angeblich sicher, dass sie das Thema verstanden hätten. Dann begannen einige der Schüler damit Szenen des Films nachzuspielen und teilten sich in Gruppen von SS-Männern und Juden ein. Dort lief es dann ebenfalls aus dem Ruder. Das Ganze scheint an Aktualität leider nie zu verlieren.

Ron Jones

Ron Jones in seinem ehemaligen Klassenzimmer

Inwiefern können heute noch neue Erkenntnisse über dieses Experiment gefunden werden? Wurde es nicht bereits ausdiskutiert?

Rotstein: Es ist eine gewisse Renaissance nötig, was die Aufarbeitung angeht. Früher dachte ich, dass Dokumentarfilme und Serien über den zweiten Weltkrieg in der Art nicht mehr notwendig sind – da wir doch anscheinend bereits alles wissen. Leider ist das nicht der Fall. Neue Generationen wachsen heran und Zahlen belegen, dass erschreckend wenige von Auschwitz gehört haben und wissen, was damals passiert ist. Es ist also notwendig, die Geschichte neu zu erzählen und das auf eine universelle Weise zu tun, dass es jeder Mensch nachvollziehen kann.

Gansel: Wir befinden uns außerdem in einer Zeit, in der immer mehr Zeitzeugen sterben und Geschehnisse wie der zweite Weltkrieg vollends zur Geschichte werden. Umso wichtiger werden Dokumentationen, die heranwachsende Menschen erinnern und auf die Gefahren hinweisen.

Jugendliche informieren sich immer mehr über die Weltpolitik und gehen auf die Straße um gegen Klimasünden zu demonstrieren – sind sie reflektierter als Jugendliche aus der vorherigen Generation?

Gansel: Da hat sich auf jeden Fall etwas geändert. Als wir für "Wir sind die Welle" Interviews mit Schülern gehalten haben, ist mir aufgefallen, wie bedacht die meisten Teenager sind. Für viele war die Wahl von Trump ein Wendepunkt, wo die meisten meinten: "Jetzt reichts, jetzt habt ihr Erwachsenen die Kontrolle verloren." Eine Greta Thunberg kommt deswegen auch nicht aus dem Nichts. Wirklich viele wollen das Ruder rumreissen und etwas ändern. Auf der anderen Seite hat die diesjährige Shell Jugendstudie erwiesen, dass viele Jugendliche Fake-News aufsitzen und sich für konservative Gedankenströme begeistern lassen. Es gibt also beides – Hoffnung und Warnung.