Herr Werth, wie haben Sie die ersten Stunden erlebt, als die Nachricht vom Brand der Pariser Kathedrale Notre-Dame die Runde machte?

Ich hatte den ganzen Montag über für einen "Europamagazin"-Beitrag gedreht und geschnitten und bin abends gegen viertel vor sieben nach Hause gefahren. Als ich dort gerade ankam, riefen mich die im Studio verblieben Kollegen an, weil die "Tagesschau" von dem Feuer in Notre-Dame erfahren hatte und wissen wollte, ob wir schon mehr Informationen dazu hätten. Das war zu diesem frühen Zeitpunkt nicht der Fall. Für mich stand aber sofort fest: Umkehren. In Absprache mit den Kollegen von der „Tagesschau“ in Hamburg haben wir uns dann dazu entschieden, zunächst ein Stück aus dem Studio zu machen. Als ich dort ankam, hatten eine Cutterin und eine Technikerin schon die ersten Bilder parat, und um zehn vor acht erfolgte meine erste Sprachaufnahme. Es war also alles fertig für die "Tagesschau" – bis die Meldung kam, dass der hintere Turm eingestürzt ist.


Was macht man, wenn die Sendung so kurz bevorsteht?

So kurz vor der Sendung blieb mir nichts anderes übrig, als das Stück freihändig, also ohne zuvor aufgeschriebenen Text, um diese Information zu ergänzen. Den fertigen, aktualisierten Bericht habe ich um 19:57 Uhr überspielt, er muss also spätestens um 19:59 Uhr in Hamburg angekommen sein, also schon vor Beginn der "Tagesschau". 

Trotzdem haben sich manche darüber gewundert, dass die "Tagesschau" am Montagabend nicht mit Notre-Dame begann, sondern mit dem Verfahren gegen den früheren VW-Chef Winterkorn.

Das habe ich erst im Nachhinein mitbekommen, weil ich direkt danach vom Studio zur brennenden Kathedrale unterwegs gewesen bin. Mit der Platzierung des Beitrags in der Sendung habe ich als Korrespondent dann nichts mehr zu tun.

Wie haben Sie die Berichterstattung der französischen Kollegen erlebt?

In Frankreich gibt es einen privaten Nachrichtensender und lokale Fernsehsender, die sich auf Nachrichten konzentrieren. Die waren bereits vor Ort, als wir ankamen, und berichteten rund um die Uhr über die Entwicklung des Feuers. Das ist bei einem nationalen Symbol, das Notre-Dame für die Franzosen darstellt, die völlig richtige Entscheidung gewesen. Ich selbst habe an diesen ersten beiden Tagen mehr als 33 Stunden gearbeitet – die französischen Kollegen werden noch mehr gehabt haben. Das ist ein enormes Pensum.

Tagesthemen-Schalte zu Mathias Werth© Screenshot Das Erste
ARD-Korrespondent Mathias Werth am Montagabend in den "Tagesthemen"

Sie selbst berichten seit fünf Jahren aus Frankreich. In dieser Zeit war das Land durch viele tragische Ereignisse in den Schlagzeilen. Welche Momente sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Es gab in all den Jahren mehrere prägende Momente wie den Terroranschlag auf die Kollegen von „Charlie Hebdo“ gleich zu Beginn. Eine andere Qualität hatte das zweite Terror-Ereignis mit dem Anschlag auf den Musiksaal Bataclan, weil da einfach willkürlich geschossen wurde – anders als bei "Charlie Hebdo", wo man sich gezielt die Satiriker und politischen Journalisten herausgesucht hatte. Durch einen Zufall bin ich damals am Bataclan hinter die Polizeisperre geraten und stand plötzlich mitten unter den Verletzten, die man aus dem Bataclan herausholte. Das war psychisch eine besondere Situation, weil diese schwerverletzten jungen Menschen exakt im Alter meiner eigenen Kinder waren. Da habe ich den Terror auf eine ganz andere Weise wahrgenommen als zuvor. Und dann gab es noch den Absturz der Germanwings-Maschine, wo die Umstände der Berichterstattung unvorstellbar waren. Es gab praktisch keine sanitäre Versorgung, kaum Verpflegung und nachts war höchsten zwei Stunden Schlaf möglich. Nach einer Woche warst du nicht nur von den Entwicklungen überwältigt, sondern auch von diesen Arbeitsbedingungen.

Wie verarbeiten Sie solche Situationen?

In Situationen wie diesen konzentriert man sich darauf zu funktionieren. Dafür entwickelt man im Laufe der Jahre eine gewisse Routine. Es ist eine sehr konzentrierte Form des Arbeitens. Dass es keine normale Situation ist, merkt man erst hinterher mit Verzögerung, wenn die Anspannung abfällt. Das geht hin bis zu körperlichen Schmerzen, weil sich bis zu dahin alles, was man tut, nur auf das Ereignis fokussiert, über das man berichtet. 

Hilft es, danach mit jemandem zu sprechen?

Wir sprechen im Team regelmäßig über das, was wir erleben. Im Falle des Bataclan-Anschlags hat uns die Produktion des WDR zwei geschulte Psychologen ins Studio geschickt. Da wurden auch die Familienmitglieder einbezogen. Wenn meine beiden Töchter wissen, dass ich zum Bataclan fahre, während die Terror-Aktion noch läuft, dann ist das auch für sie eine beklemmende Situation.

Kommen wir zum Schluss noch einmal auf das Hier und Jetzt zu sprechen. Wie sehr wird das Feuer in der Notre-Dame die Franzosen in der nächsten Zeit noch beschäftigen?

Die Franzosen schauen weiterhin intensiv auf Notre-Dame, vor allem aber schauen sie nach vorne. Bereits am Mittwoch wurden die ersten Maßnahmen zur Gebäudesicherung organisiert, es ist eine Spendenaktion eingerichtet worden und Präsident Macron hat bekanntlich das ehrgeizige Ziel ausgegeben, die Kathedrale in den nächsten fünf Jahren wieder aufzubauen. Eine solche Aussage führt zu einer besonderen Mobilisierung der Menschen. Aber natürlich hängt sie auch damit zusammen, dass 2024 in Paris die Olympischen Spiele stattfinden werden. Wir als Reporter werden in der nächsten Zeit überprüfen, ob das ausgegebene Ziel überhaupt realistisch ist.

Was erwarten Sie?

Macrons Aussage ist anders zu werten als eine solche Aussage der deutschen Kanzlerin in einer ähnlichen Situation. In Deutschland wäre die Diskussion: "Die lügt uns etwas vor, wenn es nicht klappt." In Frankreich dagegen heißt es: "Der Mann setzt sich ehrgeizige Ziele." Manchmal haben die gleichen Sätze eine andere Wirkung, es kommt auf die Gesellschaft an. Auch das zu vermitteln, ist unsere Aufgabe als Berichterstatter.

Herr Werth, vielen Dank für das Gespräch.

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