Frau Totzauer, Sie sind seit einem Jahr Senderchefin von ORF eins und bauen jetzt den viel kritisierten Vorabend um. Wieso sah es dort bislang eigentlich so aus wie am Nachmittag von ProSieben? Wie ist das für einen öffentlich-rechtlichen Sender zu erklären?

Lisa Totzauer: Das ist historisch gewachsen und kommt noch aus der Ära Zeiler. Damals Mitte der 90er Jahre wurden ORF eins und ORF 2 nicht wie heute so streng über Zielgruppen getrennt, sondern mehr über Genres und Angebote. Außerdem ging es darum, die Programme des ORF so zu positionieren, dass sie auch der zunehmenden Konkurrenz durch private Anbieter und deutsche Sender standhalten können. Die US-Serien waren damals noch sehr neu und aufregend, das kannte man noch nicht. Was wir heute sehen ist, dass diese damals absolut richtige Strategie aus verschiedenen Gründen nicht mehr funktionieren kann und für einen öffentlich-rechtlichen Sender nicht gut ist.

Warum?

Das hat mehrere Gründe. Der eine ist, dass der Serienmarkt im linearen Fernsehen nicht mehr die Reichweiten erzielt wie noch vor zehn Jahren. Das Angebot an Serienprodukten für den linearen Markt, das nachkommt, ist außerdem sehr gering. Die seriellen Produktionen sind mittlerweile ein ganz anderes Geschäftsmodell geworden und zu einem Gutteil zu Netflix, Amazon, Hulu und anderen OTT-Anbietern migriert. Dann gibt es noch ein gesellschaftliches Argument mit den Fragen: Warum ist öffentlich-rechtlicher Rundfunk wichtig und was macht seinen speziellen Content aus? Warum würde ich für diesen Rundfunk eintreten? Und da reden wir dann von Produkten, die man nicht überall beziehen kann. Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion war für uns daher klar, dass wir den mutigen Schritt gehen und in den Vorabend investieren werden.

Die Kritik am Programm von ORF eins gibt es schon seit vielen Jahren.

Eine große gewachsene Institution hat manchmal eine gewisse Behäbigkeit im Entscheidungsprozess. Das ist ein Tanker, der schwer zu steuern ist. Wir haben viele Bereiche, die super in Schuss sind, aber das gesamte Schiff in der Ausrichtung zu drehen und dann auch den Mut haben die Verantwortung zu übernehmen, dazu brauchen wir als Öffentlich-Rechtliche grundsätzlich manchmal ein bisschen länger, das ist ja nicht nur ein ORF-Phänomen.

Was soll jetzt anders werden?

In der ersten Transformationsphase von ORF eins konzentrieren wir uns wochentags auf die Kernzeit zwischen 18 und 22 Uhr. Diese Zeitzone wollen wir österreichisch bespielen, das ist mein mittelfristiges Ziel. Am Anfang unserer Analyse haben wir festgestellt, dass ORF eins zu wenig Verlässlichkeit bietet. Es gab zu wenige Programmanker. In ORF 2 gibt es unter anderem mit "Guten Morgen Österreich", der "ZiB 9", "Bundesland Heute" und der "ZiB 2" einige horizontale Anker im Programm. In ORF eins beschränkte sich das bislang auf die "ZiB 20". Vertikal haben wir das am Dienstag bei "Willkommen Österreich" mit Stermann und Grissemann, freitags gibt es "Was gibt es Neues?". Dann wird es langsam etwas schwierig. Wir müssen da einfach verlässlicher werden, darauf haben wir beim Bau des Schemas sehr geachtet. Denn es geht ja nicht darum, immer nur etwas kurzfristig zu lösen, sondern einen Kanal langfristig stabil und wachstumsorientiert aufzusetzen. Mit den "ZiB"-Ausgaben um 18 und 20 Uhr sowie der "ZiB Nacht", die wir sukzessive auf 23 Uhr trimmen werden, haben wir künftig drei verlässliche Anker im Programm.

Um 18 Uhr läuft in ORF eins ab sofort die News-Sendung "ZiB 18", danach folgt "Magazin 1", was soll letzteres inhaltlich leisten? Sie sagten mal, man wolle damit Ecken und Kanten zeigen.

Wir haben in ORF eins damit begonnen, eine eigene Bildsprache und originäre Zugänge zu entwickeln. Angefangen hat das schon beim "ZiB Magazin". "Magazin 1" ist jetzt der nächste große Entwicklungsschritt. Wir wollen Informationen so aufbereiten, dass sie verständlich sind, Orientierung bieten und auch Einordnen. Wir leben in einer immer komplexeren Welt und da wird so etwas immer wichtiger. Wir setzen immer viel voraus, aber wissen wirklich alle Österreicherinnen und Österreicher, wie beispielsweise die Sozialpartnerschaft funktioniert? Oder worum es beim Backstop im Brexit-Prozess geht? Wir wollen viel Hintergrund bringen, manchmal auch mit einem Augenzwinkern. Wir haben bei ORF eins bislang nicht viele Sendeplätze gehabt, um bei solchen Dingen in die Tiefe zu gehen. Es geht also darum komplexe Zusammenhänge zu erklären, den Blickwinkel zu ändern, Vielfalt abzubilden, auf Augenhöhe zu kommunizieren und das alles auch noch gerne auf eine unterhaltsame Art und Weise.

"Wir müssen da einfach verlässlicher werden."

Und wo sind die Ecken und Kanten?

Die Ecken und Kanten werden im Programm und auch im Studio sichtbar. Als wir den ersten Entwurf des Architekten gesehen haben, waren wir damit nicht so zufrieden. Das hat zwar toll ausgesehen, hätte aber jedes Nachrichtenstudio der Welt sein können. Wir haben dann sehr klar kommuniziert, was uns ausmacht. Wir reden und bewegen uns ganz normal, wir sprechen nicht wie in einer Blase. Ein paar Tage später kam der Architekt wieder und der neue Entwurf sah schon fast so aus wie das Studio jetzt. Er sagte damals: "Das ist wichtig. Keine Kurven." In diesem neuen Entwurf haben wir uns gleich wiedergefunden, damit kommen wir auch sichtbar raus aus der Blase.

Magazin 1© ORF/Thomas Ramstorfer
Lisa Totzauer mit den "Magazin 1"-Moderatorin Lisa Gadenstätter und Stefan Lenglinger (beide außen) und ORF-eins-Chefredakteur Wolfgang Geier. 

Vor Ihrer Zeit als Senderchefin waren Sie lange verantwortlich für die "Zeit im Bild", später waren Sie Infochefin von ORF eins. Wie hat sich der News-Betrieb verändert?

Wir haben uns im Nachrichtenbereich lange treiben lassen, sicher auch durch die Digitalisierung. Da ging es oft darum, wer welche Meldung zuerst hatte und nicht wie sie verständlich gemacht und erzählt wird. Für das Publikum des öffentlich-rechtlichen-Rundfunks ist Geschwindigkeit nicht immer die zentrale Frage. Speed kills analysis. Klar können wir nicht fünf Tage später ein Wahlergebnis verkünden.  Aber ich meine eher die gefühlte Aktualität. Was sind Themen, mit denen wir uns auseinandersetzen? Und vor allem geht es um das wie. Gerade sind es die Identitären. Da berichten wir an einem Tag zu einem bestimmten Anlass und können dann gleichzeitig darauf hinweisen, dass wir dem Thema analytisch noch näher auf den Grund gehen. Und zwei Tage später läuft dann ein erklärender Hintergrund-Beitrag dazu.

Werden die vermehrten Investitionen in österreichische Inhalte dazu führen, dass die Akzeptanz der Menschen in den ORF steigt?

Ich glaube zutiefst an die Werte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und bin überzeugt davon, dass wir mit unserem Programm  identitätsstiftend sind, auch wenn wir immer noch besser sein können. Wenn wir eine Gesellschaft wollen, die bereit ist für den ORF einzutreten und damit auch bereit ist, dafür etwas zu leisten, dann müssen wir uns verändern. Das braucht auch ihre Sichtbarkeit im Programm und geht Hand in Hand mit der Quote: Wenn wir den Mut haben, auf österreichische Inhalte zu setzen und auf Augenhöhe in einen Dialog mit den Bürgern zu treten ohne belehrend zu wirken, dann werden sie sich unsere Programme ansehen.

"ORF eins ist ein Haus, das auf einem sehr guten Fundament steht, jedoch einige Zimmer mit Renovierungsbedarf hat."

Ein Umbau am Vorabend ist immer auch ein Risiko, das Fernsehen ist ein Gewohnheitsmedium.

Wir werden sehr sorgsam mit unserem Publikum umgehen und wollen niemanden am Weg der Neuerung verlieren. Wir entwickeln den Kanal Schritt für Schritt weiter und ändern Slot für Slot. Wir gehen da einen sehr mutigen Weg, vielleicht haben wir auch deshalb lange nicht in den Vorabend gegriffen. Aber irgendwann müssen wir angesichts der Umbrüche am Fernsehmarkt damit beginnen. Wir wissen natürlich auch, dass das massiv in Sehergewohnheiten eingreift. Dennoch bin ich überzeugt, dass wir den richtigen Weg gehen. Ich bin mir bewusst, dass wir nicht von einem Quick Win reden, sondern von einem sehr großen Projekt. Wir brauchen Geduld und wir müssen sehr viel analysieren und konsequent an den Formaten arbeiten und aus Rückschlägen lernen. Ich habe das große Bild vor Augen. Es geht mir um die Grundausrichtung des Senders, die soll stabil sein in die Zukunft weisen.

Wie sehr machen Sie denn jetzt ORF 2 Konkurrenz? Auch dort laufen zwischen 18 und 18:40 Uhr ja Formate mit einem gewissen Info-Anteil.

Grundsätzlich sind die Kanäle des ORF nicht als Konkurrenz zueinander zu betrachten, sondern als einander begleitende Tanker und Schnellboote, eingebettet in eine öffentlich-rechtliche Flottenstrategie. Wir wären dumm, würden wir von einander als Konkurrenten denken. Es ist jedoch wichtig, die eigenen Zielgruppen zu kennen. Die Unterscheidung in Jung und Alt ist inzwischen Schnee von gestern und entspricht nicht mehr unserer modernen Gesellschaftsstruktur. Heute differenzieren wir u.a. nach Sinus Milieus, wenngleich ich hier anmerke dass die ORF eins Milieus im Schnitt um einiges jünger und damit werbewirtschaftlich wichtiger sind als jene von ORF 2. Ein Beispiel: Im Herbst haben wir "Kurier des Kaisers" gemacht, pro Folge ging es um ein Bundesland. Als wir die Ausgabe gezeigt haben, in der es um das Burgenland ging, lief in ORF 2 ein "Universum"-Film über das Burgenland. Als wir uns nachher die Sinus Milieus angesehen haben, haben wir festgestellt, dass beide Sender ihre Zielgruppen erreicht haben. Es gab keine Überschneidungen, nicht einmal bei den Burgenländern. Das muss das Ziel sein. Ich erwarte mir keine Kannibalisierung.

"Wir werden sehr sorgsam mit unserem Publikum umgehen und wollen niemanden am Weg der Neuerung verlieren."

Wie sehen denn Ihre Quotenziele aus? Der Strategie-Schwenk erfolgt jetzt auch, weil die US-Sitcoms längst nicht mehr so erfolgreich sind wie früher.

Gute Frage. Ich stürze mich nicht so gerne direkt auf die nackten Quoten. Für einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt es verschiedene Kriterien, die Erfolg dokumentieren. Dazu zählen unter anderem auch die Vielfalt und die österreichische Identität, die wir den Zuschauerinnen und Zuschauern bieten wollen. Zu den Zahlen: Unser strategisches Ziel ist es, mittelfristig den Marktanteil von heute auch künftig mit den Informations-Programm zu erreichen. Wenn die Lücke zwischen 18 und 22 Uhr geschlossen ist, ist das nächste Ziel den Marktanteil auszubauen.

Wie geht es denn künftig nach den beiden neuen Formaten weiter? Vorerst laufen dort ja weiterhin US-Sitcoms, aber Sie wollen ja österreichischer werden. Und dann ist da noch ORF 2, das um 19 Uhr nicht selten bei Marktanteilen um die 50 Prozent liegt.

Im Herbst werden wir den Samstagvorabend zu einer Teststrecke für verschiedene Formate umfunktionieren. Dort wollen wir sehen, welche Möglichkeiten wir haben, natürlich auch im Unterhaltungs-Bereich. Im Fokus steht dabei immer die Möglichkeit, das einzelne Format auf die komplette Woche auszurollen. Natürlich spielen dabei auch die finanziellen Möglichkeiten eine Rolle. Am Vorabend werden wir keine tägliche Serie zeigen. Wir planen dafür non-fiktionale Produkte, mit denen wir künftig zwischen 18:40 und 20 Uhr zwei Zeitslots füllen müssen. Ziel ist es, das erste Format ab 2020 auszurollen. Aber das hängt natürlich auch stark von den Ergebnissen der Tests ab. Wir haben mit dieser Vorgehensweise als ORF, das muss ich ganz ehrlich sagen, beschränkte Erfahrungswerte. Umso spannender wird es auch für uns, wie diese Herangehensweise funktioniert.

Auf Seite 2 lesen Sie, mit welchen Formaten man künftig noch am Vorabend plant, was Lisa Totzauer zum politischen Einfluss auf den ORF sagt und wie sie zu Gerüchten, sie könnte bald ORF-Geschäftsführerin werden, steht.