Frau Schön, Frau Thor-Wiedemann, wenn Filme früher im Nationalsozialismus gespielt haben, gab es unter aufrechten Normalbürgern maximal zwei, drei echte Nazis. In der 2. Staffel „Charité“ sind es nicht nur mehr, sondern teils echte Sympathieträger.

Sabine Thor-Wiedemann: Aber ihre Weltanschauung wie die der anfangs überzeugten Nationalsozialistin Anni ist ja keineswegs sympathisch. Wer Nazis nur als eindimensionale Unmenschen zeigt, macht es sich zu leicht.

Dorothee Schön: Edle Widerstandskämpfer gegen fiese Nazis – eine solche Erzählung birgt die Gefahr, stereotyp zu sein.

Thor-Wiedemann: Und wie das System von ganz gewöhnlichen Menschen getragen wurde, ist eine Realität, die das Fernsehen inzwischen durchaus differenziert erzählen kann. Was uns daran interessiert, ist der Entwicklungsprozess unserer oft jungen Figuren. Den macht jede in den sechs Folgen durch – zum Guten wie zum Schlechten.

Schön: Im Krieg haben die Menschen zuallererst damit gekämpft, ihren Alltag zu bewältigen. Die überwiegende Mehrheit hatte weder den Willen zum Heldentum noch zur Täterschaft.

Aber das war vor 15 Jahren ja nicht anders, als Täter in „Die Flucht“ oder „Dresden“ vor lauter Opfern die Ausnahme blieben. Gibt es einen Bewusstseinswandel, der sich auch in der Fiktionalisierung des NS ausdrückt?

Schön: Heute interessieren uns mehr die Grautöne, weniger das Schwarzweiße. Dafür ist Ferdinand Sauerbruch ein gutes Beispiel. 1954 war er Held eines Kinofilms, der ihn erfolgreich als väterlichen Halbgott in Weiß zeichnet – unberührt vom Dritten Reich. Verdrängung war den Deutschen damals ein kollektives Bedürfnis.

Thor-Wiedemann: Weil die Schuld damals auf möglichst wenige Schultern verteilt werden sollte, war die Mehrheit der Figuren im Film hochanständig.

Schön: Erst seit den Sechzigern hat man diese Art Schuldverteilung hinterfragt, doch irgendwann ist das Pendel in Belastungseifer umgeschlagen. So wie man anfangs nur das Gute in Sauerbruch gesehen hatte, wollte man plötzlich nur noch das Schlechte sehen. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte.

Was in „Charité“ allerdings dahingehend kippt, dass er weniger als regimetreuer Opportunist, sondern zweifelnder Moralist dargestellt wird.

Thor-Wiedemann: Die Serie spielt nach 1943, als Sauerbruch innerlich längst mit dem Regime gebrochen hatte. Als Deutschnationaler hatte er deren Machtübernahme 1933 zwar in einem offenen Brief begrüßt; anders als 45 Prozent der Ärzteschaft war er aber nie Parteimitglied. Als ihm bewusst wurde, was mit den Juden geschieht, hat er dagegen opponiert, ebenso gegen die systematische Tötung Behinderter. Mit den Attentätern des 20. Juli war er befreundet, seine Familie entsprechend gefährdet. Wahr ist aber auch, dass die Ehrungen und Ämter, die ihm die Nazis verliehen haben, seiner Eitelkeit schmeichelten.

Schön: Da wir es uns mit der Ambivalenz dieser Figur nie leicht gemacht haben, fordern wir auch das Publikum dazu heraus abzuwägen – etwa durch Oberarzt Adolphe Jung, der Sauerbruch im 2. Teil stellt all jene kritischen Fragen zum Regime stellt, für die er sich auch später rechtfertigen muss.

Thor-Wiedemann: Sauerbruch war ein echtes Alphatier, das sich gern mit Orden und Titeln geschmückt und es genossen hat, ein weltbekannter medizinischer Star zu sein.

Schön: Aber er hatte eben auch andere Seiten: Mut, Verantwortungsgefühl gegenüber seinen Patienten, egal wer sie waren. All dies ist Teil der Serie.

Haben Sie sich die Arbeit daran insofern geteilt, als Frau Schön fürs Historische zuständig war, weil Ihnen die medizinische Expertise von Frau Thor-Wiedemann fehlt?

Schön: Die hab ich leider nicht, aber weil wir alles zusammen entwickelt haben, bin ich eine Art Medizinerin honoris causa (lacht). Und weil mein Französisch zu schlecht ist, hat Sabine im Alleingang die Geschichte von Professor Jung im Elsass recherchiert.

Thor-Wiedemann: Wir waren ein Zwei-Personen-Writers-Room.

Welches Narrativ spielt darin die Hauptrolle: das medizinische, menschliche oder politische?

Schön: Das kann man nicht trennen. Die Charité mitten in Berlin kann man nicht ohne Politik erzählen und Medizingeschichte nicht ohne Menschen.

Thor-Wiedemann: Rudolf Virchow sagte sinngemäß, Politik sei Medizin im Großen. Das durchzieht auch die Serie.

Schön: Oberflächlich mag ein Blinddarm in jeder Epoche ein Blinddarm sein, tiefgründiger betrachtet entzündet er sich auch durch die Lebensbedingungen der jeweiligen Zeit. Die Geschichten unserer Protagonisten spielen nicht einfach vor beliebiger historischer Tapete. Die sozialen und politischen Zustände prägen jede Figur.

Spielt die Liebe deshalb in den ersten zwei Folgen eine eher untergeordnete Rolle?

Schön: Das kommt noch, keine Sorge!

Thor-Wiedemann: Und wir erzählen dazu noch eine sehr starke Geschwistergeschichte, die ja am Ende auch mit Familie und Zuneigung in der jeweiligen Zeit zu tun hat.