Ein dunkler Wald geht immer. Seit den Brüdern Grimm steht er für Gefahr und Isolation, Verlust und Mystik, für Angst und Beklemmung, also alles, das unserer Seele in sich selber auflauert, sobald fahles Mondlicht auf Birkenrinde fällt. Auch ein Gehölz bei Oslo wird derart diffus beleuchtet als ein Auto hindurch fährt und danach deutlich hörbar verunglückt. Er hat es also schon wieder getan – der dunkle Wald. Und zwar nicht irgendwo, sondern in Skandinavien, ein globaler Hotspot delinquenter Baumgruppen, die das Böse fiktional förmlich anziehen wie halb Nordeuropa grausame Verbrechen.

Diesmal ist es der bleiche Thommy, dessen Körper tot überm nebligen See im obigen Walde hängt. Suizid, so scheint es. Doch als der Polizist Nikolai Andreassen einem Kollegen zum Fundort folgt, entdeckt er Verletzungen an der Leiche, die auf Gewalteinwirkung schließen lassen, ergo: Mord. Darunter macht es der unvermindert boomende Kriminalthriller Marke Scandi Noir nicht, in dem die sonst so friedliebenden Norweger, Dänen oder Schweden unablässig mit Straftaten von bizarrer Grausamkeit zu tun haben. In der neuen Eigenproduktion von Sky jedoch entspringt die Grausamkeit weniger dem Schrecken bestialisch zugerichteter Verbrechensopfer; den kälteren Schauder entfacht die anschließende Ermittlung.

Beim Familienbesuch in Oslos winterkargem Umland gerät der prinzipientreue Bilderbuchbulle Nikolai, den sein Vorgesetzter drei Szenen zuvor vom Dienst beurlaubt, weil er daheim in Oslo gegen einen Kollegen aussagen will, in schwere Gewissensnot. Der Mörder des Erhängten im Wald ist nämlich selber Polizist und sitzt gerade neben ihm. „Ich bin dein Bruder“, sagt Lars nach seinem Geständnis, das Opfer besoffen erwürgt zu haben. Mehr Worte braucht es nicht, um frühzeitig die Eskalationsspirale zu skizzieren, in der Nikolai acht Folgen lang spektakulär talwärts rauscht.

Eingezwängt zwischen Pflichtgefühl und Blutstreue hilft Nikolai seinem Beifahrer, der dummerweise ebenfalls Polizist ist, nicht nur, die Tat zu vertuschen; er beugt auch sonst das Recht, fälscht Beweise, versündigt sich sozusagen an der eigenen Moral und wird unaufhaltsam zum "Grenzgänger", wie die norwegisch-deutsche Koproduktion einen Monat, nachdem sie in den USA, Russland und Großbritannien auf Netflix lief, hier heißt. Trotzdem lässt sich die Serie ab heute in Doppelfolgen auf Sky Atlantic nicht auf den Mord und die Abgründe seiner Verdunkelung reduzieren. Nebenbei und mittendrin handelt sie von Drogenhandel, Korruption, Immobiliendeals, von sozialer Vereinsamung, familiärer Entfremdung, der Gesellschaft im Ganzen – und das Coming-Out der Hauptfigur steht auch noch aus.

Es geht also mal wieder um alles, das mit allem verwoben ist, bis ein Netzwerk kollektiver Schuld und Sühne zutage tritt. Wie so oft im Genre ist das manchmal ein wenig viel der Verstrickung. Der Vater des ermittelnden Cops vögelt die Frau des Mordopfers, verschuldete Polizisten finden zufällig Drogen ihres Gläubigers, Nikolais Zeugenaussage in Oslo kommt auch noch ins Spiel, alles hat tiefere Bedeutung, jeder irgendwie Dreck am Stecken, niemand ist bloß gewöhnlich. Als politisch aktiver Geschäftsmann Josef kriegt es Eivind Sander zum Beispiel mit Bandenkriminalität zu tun, der biedere Polizist Bengt (Frode Winther) erweist sich als Brandstifter, selbst die toughe Kommissarin Anniken (Ellen Dorrit Petersen) stromert etwas zu vieldeutig in rauchigen Bars herum. Und wenn sie ständig dank zufällig erstellter Videos auf die Spur der vielen Tatverdächtigen stößt, wirkt das Drehbuch der Showrunnerin Megan Gallagher dramaturgisch leicht überfrachtet.

All dies wird jedoch spielend vom anthrazitfarbenen Dämmerlicht kompensiert, in das die Regisseure Bård Fjulsrud und Gunnar Vikene ihre Szenerie selbst bei Tage tauchen. Ohne sie mit der genretypischen musikalisch verstärkten Effekthascherei zu traktieren, illustriert die aseptische Aura inmitten der überwältigenden Natur jene Grauzonen menschlicher Entscheidungsgewalt, die zwar selten auf böser Absicht beruhen, aber stets böse enden. Der deutschstämmige Hauptdarsteller Tobias Santelmann – seit seiner Rolle im britischen Wikingerepos The Last Kingdom auch international ein Star – verleiht der Atomsphäre dabei ein versteinertes Gesicht, hinter dem es spür-, aber nicht sichtbar arbeitet, während Benjamin Helstad als Bruder Lars an seiner Fehlbarkeit leidet wie vor ihm zuletzt der unerreichte Peter Lorre.

Visuell also mag "Der Grenzgänger" nur ein Fall skandinavischer Dunkelheit mehr sein im Ozean nordeuropäischer Fernsehmorde. Doch er versucht uns die Realität nach Ansicht der ersten drei Episoden nicht drastischer vor Augen zu führen als sie ist. Die Abgründe unserer Seele lauern halt nicht immer nur hinterm Gedärm rituell zerstückelter Leichen; oft genug blinzeln sie auch aus dem Versuch, ein guter Mensch zu sein. Ob der prinzipientreue, rechtbrechende Nikolai trotz allem einer bleibt, ist da Ansichtssache. Man sollte ihm also dringend dabei zusehen.

Die Pilotfolge von "Der Grenzgänger" lässt sich frei empfangbar online abrufen.
Sky Atlantic strahlt die Serie ab heute, 6. April immer freitags um 20:15 Uhr in Doppelfolgen aus. Parallel sind die Folgen auch via Sky On Demand, Sky Go und Sky Ticket verfügbar.