Wer heute Fernsehen sagt, meint damit gemeinhin alles Mögliche, Musik hingegen eher seltener. Nicht, dass sie darin gänzlich fehlt. Besonders die Privatsender verstehen schließlich unter Soundtrack – ob importiert oder eigenproduziert – derart lückenlose Dauerbeschallung mit orchestral angefettetem Gefühlsquark, dass man sich in fast jedem Format ein wenig weniger Musik am Bildschirm wünscht. Beim Tauschkonzert indes ersetzt Vox seit 2014 ausnehmend erfolgreich die Kreation neuer Songs durch die Interpretation alter, während "The Voice of Germany" auf ProSieben und Sat.1 zwar anspruchsvoller ist als die unverwüstliche Superstarsuche auf – ja, wo noch mal genau? Ein wirklich eigensinniges, selbstverantwortetes, handgemachtes Musikangebot allerdings, das sucht man zumindest an prominenter Stelle vergebens.

Als MTV mit dem Buggles-Clip "Video Killed The Radiostar" 1981 auf Sendung ging, wurde die Kunstform des Musikvideos für Jahrzehnte zur wirkmächtigsten visueller Medien, von denen es neben dem Kino anfangs eben nur eins gab: Das Fernsehen. Selbst im digitalen Zeitalter galt es als unerlässliche Plattform der Popindustrie, deren Geschäft untrennbar an visuelle Darreichungen gekoppelt ist. Vor zehn Jahren jedoch, das Internet wird wie zuvor Heimcomputer und Handy Standard, drehen die angehenden Kommunikationsdesigner Kathrin Wetzel und Christian Jegl den Titel des ersten MTV-Tracks in ihrer Abschlussarbeit über die „Zukunft des Musikvideos“ um und nennen sie „Future thrilled the Video Star“. Es ist ein Abgesang. Denn aus popkultureller Sicht, so scheint es nach dem Ende von MTV und Viva als Musiksender mit Musik, ist der ungekrönte König des Fernsehens mit Rhythmus tot.

Es lebe der König!

Der nämlich erobert sich bald ein neues Reich: Videoportale. Nachdem das New Yorker Dotcom-Unternehmen InterActiveCorp Ende 2004 die Plattform Vimeo online schickt, folgen fast im Monatstakt weitere. Doch einzeln mal mehr, mal weniger erfolgreich, schaffen internationale Anbieter wie Vevo oder Twitch selbst gemeinsam mit den deutschen MyVideo und Clipfish nur einen Bruchteil dessen, was der Marktführer bald vollbringt. Bringt es Youtube bereits ein Jahr nach seiner Gründung 2006 bei täglich 65.000 neugeladenen Videos auf rund 100.000 Millionen Clicks, so haben heute allein die 73 beliebtesten Filme jeweils mindestens eine Milliarde Zugriffe – und 90 Prozent davon sind Musikvideos.

Das Ende dieser Gattung wurde also nicht eingeläutet, sondern im Gegenteil: umgedreht. Dank Streamingdiensten und Smartphones, Spotify und iTunes fand Musik zu keiner anderen Zeit der Geschichte mehr Verbreitung. Selbst das vorwiegend rückgratlose Gedudel des Radios ist partout nicht totzukriegen. Nur ein Medium ist nahezu völlig auf der Strecke geblieben: Das Fernsehen. Es gibt zwar Ausnahmen. Der Landshuter Nischensender Deluxe Music zum Beispiel behauptet sich seit seiner zwischenzeitlichen Insolvenz vor fünf Jahren im Kabelnetz und zeigt dort rund um die Uhr sorgsam kuratierte Musikvideos aller Epochen, und erzielt an manchen Tagen mit mehr als einem Prozent Marktanteil bessere Werte als viele andere kleinere Spartensender.

Zugleich jedoch hat das Zweite vor ziemlich genau zwölf Monaten seinen Spartenkanal ZDFkultur beerdigt, wo bis dato tatsächlich noch Live-Konzerte liefen und gelegentlich sogar journalistisch aufgearbeitete Betrachtungen des Sounds seiner Zeit. Dann aber wurde der Sender dem öffentlich-rechtliche Onlineprojekt funk geopfert und nun? Gibt es eigentlich nur noch den gelegentlichen Rock-Palast im Ersten, Opernklänge auf 3sat und das popkulturelle Arte-Magazin Tracks, wo regelmäßig Newcomer vorgestellt werden, aber eben auch allerlei unmelodische Lifestyle-Entwicklungen.

Immerhin überraschte Viva vor zwei Jahren mit seiner Nachricht aus der Versenkung, es würde auf Reality-Formate verzichten. Die Musiksendungen zum Ersatz gab es allerdings nur vier Stunden lang ab zwei Uhr nachts, unterbrochen von Erotikclips. Ansonsten heuchelt Oliver Geissens "Ultimative Charts Show" auf RTL weiter Interesse an Hits, während Thomas Gottschalk 40 Jahre nach Szene gelegentlich in der Rumpelkammer des Rock stöbert. Es ist überall Sound im Fernsehen, nur Musik – die gibt es dort fast nirgends mehr.

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