War das eine harte Woche. Es ging drunter und drüber und dann wieder drüber und drunter. Achterbahn ist ein Witz dagegen. Das Fieber schnellte hoch und dann wieder abwärts, um sich danach erneut auf Klettertour zu begeben. Was für eine fette Grippe! Dachte ich. Aber dann kam der Arzt und stellte mir ein paar kluge Fragen. Kurz danach war klar, was ich wirklich hatte: Floskel-Allergie.

Ich weiß es jetzt. Ich bin allergisch gegen gewisse Formulierungen. Das haben ausführliche Tests ergeben. Bei denen musste ich mich auf einen Stuhl hocken und ganz viel fernsehen. Und das in dieser komplett überhitzten Woche. Ich musste ganz viele Reporter wahrnehmen, Kommentare hören und lesen, Analysen schnupfen, und ich bekam in Überdosis Volkes Stimme injiziert. Alles wegen dieses Du-weißt-schon-wer.

Das meiste habe ich einfach so weggesteckt. Ich habe halt als Anführer des medialen Besserwisser-Kommandos schon vieles erlebt, bin gestählt im Geschäft mit Neuem und angeblich Neuem. Schließlich kristallisierte sich heraus, was mich wirklich plagt. Nun lässt sich meine Allergie auf ein Wortpärchen eingrenzen. Wenn das kommt, reagiere ich sofort. Es handelt sich um den „gesunden Menschenverstand“.

Entschuldigung. Hust, schnüffz, röchel. Schon wieder ein Anfall. Immer wenn jemand „gesunder Menschenverstand“ sagt oder schreibt, geht es bei mir los. Hust, schnüffz, röchel. Im Fernsehen oder in der Zeitung, online oder im Radio. Wo immer ich „gesunder Menschenverstand“ höre, steigen bei mir die Histaminwerte. Und ich habe diese sinnentleerte Worthülse in der vergangenen Woche sehr oft hören müssen. Gesunder Menschenverstand. Hust, schnüffz, röchel.

Ich frage aufgrund meines nun nachgewiesenen Leidens einfach mal in die Runde: Wäre es eventuell möglich, auf den Gebrauch dieser Floskel zu verzichten. Ginge das? Mir zuliebe? Nein? Geht nicht? Schade.

Ich bin sonst keiner von der Wortpolizei oder von der Grammatik-Stasi. Ich gebe aber trotzdem zu bedenken, dass die Aussagekraft des allergieauslösenden Begriffes in den vergangenen Wochen arg gelitten hat, weil der „gesunde Menschenverstand“ halt immer dann herhalten musste, wenn die Argumente ansonsten dünn wurden.

Ich habe zwischendrin mal von meiner Filterblase wissen wollen, ob es denn analog zur inflationierten Vokabel auch den kranken Menschenverstand gebe. Die Antworten blieben karg. Ich wurde nicht klüger. Irgendjemand sagte mir immerhin, dass Immanuel Kant den Verstand als das Vermögen zu denken definiert habe. Wenn aber der Verstand ein Vermögen darstellt, evoziert das doch die Frage, ob ein Vermögen gesund oder krank sein kann. Muss mein Bankguthaben eventuell auch zum Doktor? Ist es wegen der anhaltenden Zinsschwäche krankes Vermögen?

Wenn Kant recht hat und der Verstand mit dem Denkvermögen korreliert, wieso muss es dann der Menschenverstand sein. Denkt sonst noch wer? Denken Tiere? Sind Maschinen schon so weit, dass eine Abgrenzung nötig ist? Müssen wir uns demnächst auf den gesunden Maschinenverstand einrichten? So ab iPhone 9?

Ich kann Kant nicht mehr konsultieren, weil der schon 212 Jahre tot ist, deshalb werde ich mit meinen Folgerungen halt hier vorstellig. Die gehen so: Wenn ein Vermögen nicht gesund oder krank sein kann und der Verstand per se menschlich ist, dann braucht kein Mensch mehr den „gesunden Menschenverstand“. Hust, schnüffz, röchel. Oder?

Verstand würde nach meinem Ermessen völlig ausreichen, hätte allerdings nur zwei Silben. Damit kann man zugegebenermaßen in Debatten nicht so doll auftrumpfen wie mit den sieben Silben von „gesunder Menschenverstand“, die man bei Einsatz eines ordentlichen Stakkatos durchaus waffentauglich prononcieren kann.

Ich bleibe zäh. Ich fordere nicht. Das ist nicht meine Art. Aber ich bitte inständig. Könnten wir nicht doch mal versuchen, auf den „gesunden Menschenverstand“ zu verzichten? Eine kleine Weile vielleicht? Ich würde gerne mal wieder Talkshows schauen, in denen die Gesprächsteilnehmer nicht ihr Gegenüber diskreditieren, indem sie ihre eigene Position als gesund und alle anderen Standpunkte als krank diskreditieren. Es wären möglicherweise Sendungen, in denen es mehr um die Sache und nicht so sehr um pure Revierkämpfe ginge, in denen nicht die plappernden Platzhirsche populistischer Politikparolen die Lufthoheit über den virtuellen Stammtisch einnähmen, in denen vielmehr Argumente Raum gewännen. Nackte Argumente. Einfach so. Mit der ihnen innewohnenden Kraft.

An alle, die sich nicht so schnell von der Gewohnheit lösen mögen, was ich erwartet habe, ergeht ein kleiner Abrüstungsvorschlag. Es reicht, wenn man einfach nur Verstand sagt. Zu Entschlackung des Lebens. Man braucht den „gesunden Menschenverstand“ nicht, um überzeugend zu wirken. Und wenn man es nicht wegen der Einsicht tut, dann vielleicht weil man Zeit spart, wenn fünf Silben wegfallen. Und wegen mir. Vielleicht höre ich ja bald mal jemanden in einer Talkshow folgenden Satz verkünden: „Ich sage jetzt nicht ‚gesunder Menschenverstand‘, sonst hat Hoff Husten.“ Schon jetzt danke dafür.