"Sind Sie in letzter Zeit mal Economy Class geflogen?", will Barbara van Schewick von den Teilnehmern der Medienversammlung in Köln wissen. Die gebürtige Rheinländerin, seit 2009 Professorin an der Stanford Law School und Direktorin des Stanford Center for Internet and Society, ist gerade aus Kalifornien in die alte Heimat gereist. "Da ist es ganz schön unangenehm", fährt sie fort. "Muss es auch sein – sonst wären nicht genug Passagiere bereit, für die Business Class zu bezahlen."

Die weltweit gefragte Expertin für Netzneutralität muss gar nicht erst ausführen, was ihr Beispiel mit dem eigentlichen Thema zu tun hat. Dem Fachpublikum der Landesanstalt für Medien NRW ist auch so klar, worauf sie hinaus will: Wer im Netz nicht zahlt, muss unerfreuliche Erfahrungen machen – so die kommerzielle Logik. Klingt ganz anders als das Ideal der Netzneutralität, also die diskriminierungsfreie Gleichbehandlung aller Daten im Internet. Darum tobt in Europa gerade ein heftiger Kampf.



So wie es aussieht, könnte die finale Entscheidung in Brüssel noch diese Woche fallen. Die mühsamen Trilog-Verhandlungen zwischen EU-Parlament, Europäischem Rat und EU-Kommission laufen auf einen Kompromiss zu. Aber kann man überhaupt ernsthaft von einem Kompromiss sprechen? Die Euro-Parlamentarier hatten in ihrem ursprünglichen Entwurf eine ziemlich strenge Regelung der Netzneutralität mit möglichst wenigen Ausnahmen für eng definierte Spezialdienste festgeschrieben. Rat und Kommission – nicht zuletzt getrieben von wirtschaftlichen Interessen der Telekommunikation – haben diesen Entwurf weitgehend aufgeweicht. Netzaktivisten befürchten nun, dass viele Abgeordnete umfallen könnten, um wenigstens beim populäreren Thema Roaming-Gebühren Zugeständnisse zu erwirken.

Eine gestandene US-Juristin wie Barbara van Schewick kann über die europäischen Zustände "nur den Kopf schütteln", wie sie sagt. Die von der amerikanischen Federal Communications Commission (FCC) frisch erlassene "Open Internet Order" basiert wesentlich auf ihrer Vorarbeit. Schon 2007 hatte sie gemeinsam mit Aktivistengruppen eine Petition gegen den US-Netzbetreiber Comcast aufgesetzt, als dieser BitTorrent und andere Peer-to-Peer-Dienste blockierte – der Startschuss für die umfassende FCC-Untersuchung in Sachen Netzneutralität. Später schritt van Schewick ein, als Mobilfunkanbieter wie Verizon, AT&T oder T-Mobile US etwa Google Wallet und weitere Apps blockierten.

Nicht umsonst steht die von US-Präsident Obama unterstützte FCC-Regelung gerade unter schwerem juristischen Beschuss durch die Netzbetreiber. Für das offene Internet schreibt sie drei Grundregeln vor: no blocking, no throttling, no paid prioritization – oder auf deutsch: keine Blockaden, keine Drosselung, keine bezahlte Priorisierung. Warum so weit reichende Vorschriften unter demokratischen Gesichtspunkten wünschenswert sind, weiß van Schewick leidenschaftlich mit diversen Beispielen zu belegen. Sie erzählt über die Gründungsphase von Skype, als nicht wenige Experten die Auffassung vertraten, IP-Telefonie erfordere besondere Diensteklassen im Internet. "Abgestimmt haben die Nutzer – und heute ist Skype einer der beliebtesten Kommunikationsdienste überhaupt. Aber in Europa haben etliche Provider Skype blockiert."

"No blocking. No throttling. No paid prioritization."

FCC Open Internet Order


Ein anderes Beispiel ist Mark Zuckerberg höchstpersönlich. Der sei, so die Stanford-Professorin, während seines Studiums mit 50 Dollar monatlichen Betriebskosten für das frühe Facebook ausgekommen. "Die meisten Start-ups und kleineren Unternehmen könnten es sich gar nicht leisten, für Überholspuren im Netz so viel zu bezahlen wie Großkonzerne. So würde ein innovationsfeindliches Ungleichgewicht entstehen."

Hierzulande sehen das manche anders. Der Verband der Digitalwirtschaft, Bitkom, etwa setzte sich vorige Woche bei einer Bundestagsanhörung dafür ein, Sonderregeln für möglichst viele Spezialdienste zuzulassen – für alles, was "wohlfahrtsstiftend" sei, beispielsweise Anwendungen der Industrie 4.0 oder Dienste, die speziell zugesicherte Qualitäten brauchen. Gegner einer starken Netzneutralität bis hin zu EU-Digitalkommissar Oettinger ("Wir haben in Deutschland Taliban-artige Entwicklungen") wiederholen gebetsmühlenartig ihre beiden Lieblingsbeispiele: Fern-OPs via Telemedizin und autonom fahrende Autos.

Beide Fälle lassen sich bei objektiver Betrachtung schnell abhaken. Sie haben mit der Netzneutralität im offenen Internet nichts zu tun. Kein vernünftiger Arzt würde das Risiko eingehen, über eine normale Internetverbindung zu operieren. Schon heute nutzen Kliniken dafür physisch getrennte Spezialnetze und Standleitungen. Die selbstfahrenden Autos der Zukunft mögen vielleicht eine Online-Verbindung brauchen, um ihre Insassen zu informieren und zu unterhalten. Für die sicherheitsrelevante Fahrsteuerung allerdings greifen sie auf ihre eigenen, vom Internet völlig unabhängigen Sensoren zurück. 

"Soll ich mir vielleicht mit Edding eine Zielscheibe aufs weiße Hemd malen?", fragt Wolf Osthaus, Mitglied der Geschäftsleitung vom Kabelnetzbetreiber Unitymedia. "Ich bin ja offensichtlich ein raffgieriger Feind der Demokratie." Osthaus hat die undankbare Aufgabe, bei der eingangs erwähnten Medienversammlung nach Stanford-Professorin van Schewick zu sprechen. Was soll er da noch ausrichten? Außer zu versichern, dass sein Haus selbstverständlich nicht blockieren, sperren oder verlangsamen wolle, dass keine absichtlich schlechte Economy Class drohe. Technisch gebe es aber nun mal "unterschiedliche Qualitätsbedürfnisse von verschiedenen Dienstearten" und der "mögliche Bedarf künftiger technischer Innovationen" sei nicht absehbar.

Für all das haben die Amerikaner bereits eine Lösung gefunden – eine, die dem hohen Gut der Netzneutralität nicht entgegensteht. Das Zauberwort heißt "User-controlled Quality of Service". Nach den neuen FCC-Vorschriften dürfen Netzbetreiber sehr wohl unterschiedliche Diensteklassen zur Verfügung stellen, etwa speziell erhöhte Bandbreiten oder optimierte Latenzzeiten. Allein dem Nutzer steht es frei zu wählen, was davon er wann braucht, und dann den entsprechenden Aufpreis an den Netzbetreiber zu zahlen. Inhalteanbietern und Web-Diensten jedoch – egal ob Google, Netflix oder dem Fotografen um die Ecke – ist es verboten, sich selbst eine Überholspur im Netz zu erkaufen. Was für Europa bei dem erbitterten Ringen rauskommt, möglicherweise schon in den nächsten Tagen, lässt sich kaum absehen.