Es gibt diese Tage, da möchte ich Rockstar spielen. Da möchte ich den Fernseher nehmen und durch die geschlossene Scheibe auf die Straße feuern. Dort soll er aufprallen und büßen für all den Mist, den er mir antut, für Lena-Ödenthal-„Tatorte“, für Berliner „Tatorte“, für Bodensee-„Tatorte“. Es scheitert meist an dem Wissen, dass meine Scheibe zu dick ist und mein Flatscreen zu fragil, als dass ich mir mehr einhandeln würde als nur ein veritables Scherbendesaster im Fernsehzimmer.

Und dann kommen Tage, an denen ich bedauere, dass mein Fernseher so eckig ist, dass ich nicht mit ihm kuscheln kann, dass ich nur vor ihm knien kann und ihm einen Kuss auf den Flatscreen setzen möchte. Solche Momente sind so selten, dass ich sie gar nicht mehr erwarte. Erst recht nicht, wenn mir Inga Lürsen droht, die Bremer Kommissarin. Da komme ich schon beim Aussprechen des Namens aus dem Gähnen nicht mehr heraus. Und dann passiert sowas.

Zwei Polizisten fahren Streife. Sie hören über einen Kopfhörer den Reckoning Song und haben sichtlich Spaß. Sie knuffen sich, sie lachen. Wie gute verschworene Kumpels das halt so machen. Dann ein Einsatzbefehl. Sie fahren hin, stoßen auf die stadtbekannten Mitglieder eines osttürkischen Familienclans. Am nächsten Morgen wird die Polizistin mit lebensgefährlichen Verletzungen neben dem Polizeifahrzeug aufgefunden. Ihr Kollege taucht erst Stunden später auf. Völlig verstört. Er könne sich an nichts erinnern, sagt er. Dabei weiß der Zuschauer, dass er sich sehr wohl erinnern kann. Dass er aber Angst hat. Nicht nur vor dem Clan, auch vor den Kollegen, die ihm vorwerfen könnten, seine Kollegin nicht angemessen beschützt zu haben.

Wilfried Huismann und Dagmar Gabler haben das Drehbuch geschrieben, Florian Baxmeyer hat inszeniert, und dringend zu erwähnen ist auch der Kameramann Marcus Kanter. Man möchte aus dem Quartett keinen besonders herausheben, weil sehr deutlich ist, dass dieser herausragende Film eine sehr tolle Teamleistung ist. Es sind Bilder, die berauschen, es ist die Art der Erzählung, es ist erfreulich wenig klassischer „Tatort“.

Man spürt schnell, dass die Kreativen hier ihre amerikanischen Lektionen gelernt haben, dass sie auf raue Bilder, auf schroffe Dialoge, auf kantige Kompositionen setzen. Das zieht den Zuschauer unmittelbar hinein. Er weiß mehr als die Akteure, aber er steht der Macht des kriminellen Clans genauso hilflos gegenüber wie die Ermittler. Wenn sich die Mitglieder der wenig ehrenwerten Familie über alle Gesetzeshüter lustig machen, wenn sie Zeugen zum Schweigen bringen und sogar den Richter bedrohen, wirkt das so brutal nah, dass es an Existenzfragen ran reicht. Alle haben am Ende Angst vor dem Clan, die Zeugen, die Zuschauer und sogar die Polizisten, die sich auf dem Weg zum Einsatz fortan lieber ein bisschen mehr Zeit lassen, damit sie nicht die ersten sind, die am Tatort eintreffen.

Das ist deutlich von realen Geschichten inspiriert. Hier der Kampf der frustrierten Polizisten, dort die Selbstherrlichkeit der Kriminellen, die sich für das wahre Gesetz halten und eine ganze Stadt unter ihr Joch zwingen. Das ist brutal, bedrohlich und berührend. Das ist vor allem spannend.

Inga Lürsen (Sabine Postel) wird da schnell zur Randfigur. Erzählt wird das meiste über die Figur des traumatisierten Polizisten und über Lürsens Assistenten Stedefreund (Oliver Mommsen). Im Prinzip stört Lürsen sogar, weil sie inmitten der schnellen Inszenierung mit ihren „Wo waren Sie“-Fragen wie ein Bremsklotz wirkt.

Dieser „Tatort“ ist eher schwere Kost, er hing mir lange nach, er hat mir sogar ein bisschen Angst gemacht. Das deutsche, auf Ödenthal-Niveau abonnierte Sonntagspublikum wird indes ziemlich sicher mit der eher unkonventionellen Machart weniger anfangen können. Aber es sind genau solche packenden Filme, die mich davon abhalten, meinen Fernseher aus dem Fenster zu werfen. Mehr davon.