„Und würden Sie bitte meine Mimose in Ruhe lassen. Die ist sehr empfindlich.“ Ein Satz aus der „Lindenstraße“. Doch, doch, so wird dort allen Ernstes gesprochen. Oder so: „Ich würde sie bitten, hier nicht so rumzuschreien.“ So etwas erfordert umgehend den Blick auf den Kalender. Doch, es ist 2013, und die Fernsehsteinzeit gilt allgemein als überstanden. Nicht so in der „Lindenstraße“. Dort wird nach wie vor der Mief von 1000 Jahren unter dem Talar einer miserablen Seifenoper gepflegt, und jeden Sonntag lüftet man kurz durch und entlässt eine ungeheure Mischung aus Verstörung, Piefigkeit und institutionalisiertem Versagertum auf den Bildschirm.

Es wurde in den vergangenen Wochen viel spekuliert über die Zukunft der „Lindenstraße“. Nicht nur weil sie aufgrund der Übertragungen von den Schwimm-Weltmeisterschaften am vergangenen Sonntag eine kleine Sommerpause einschieben musste und auch am 29. Dezember nicht auf Sendung gehen wird. Es wurde auch darüber spekuliert, ob die ARD in den nächsten Wochen über ein baldiges Aus der Serie entscheiden wird. Dass in diesen Tagen verhandelt wird, ist indes keine News, das konnte man schon aus jenen Worten lernen, die Produzent Hans W. Geißendörfer im Frühjahr im „Studio D“ parat hatte. Demnach läuft der aktuelle Vertrag bis Ende 2014, und es besteht zwischen ihm und der ARD Einigkeit darüber, dass anderthalb Jahre vor dem Auslaufen eines Vertrages über die Zukunft debattiert wird. Also jetzt.

„Niemand muss sich Sorgen um die „Lindenstraße“ machen, die Fortführung der Serie steht nicht in Frage“, hieß es dazu aus der Pressestelle des zuständigen WDR, was ein bisschen komisch klingt, weil Sätze, die mit „niemand“ beginnen, seit Walter Ulbricht einen seltsamen Beigeschmack haben.

Und dann sind da noch die Quoten, die sich ja bekanntlich im Sinkflug befinden, was ziemlicher Quatsch ist, da die „Lindenstraße“ häufiger noch mit zweistelligen Marktanteilen beim Gesamtpublikum aufwarten kann. Würde man den hier gerne aufgestellten Maßstab auf andere ARD-Bereiche anwenden, müsste das gesamte Vorabendprogramm auf der Stelle eingestampft werden.

Ich bin zugegeben nie ein großer „Lindenstraße“-Fan gewesen. In einem früheren Leben durfte ich mal für eine Zeitungsreportage eine Runde Statist spielen, bekam für ein Foto von Gabi Zenker Kuchen angereicht und musste einem Rentner vor Hausnummer drei den Weg nach Nirgendwo erklären. Ich bildete mir ein, ich wäre nach dem Ausstrahlungssonntag ein Weltstar. Zumindest in meiner Straße. Aber niemand erkannte mich, weshalb ich damals schon den Aufmerksamkeitswert von Deutschlands erster öffentlich-rechtlicher Seifenoper als eher gering einschätzte.

Ich habe dann sehr lange keine „Lindenstraße“ geschaut und erst die aktuellen Sommerloch-Schlagzeilen zum Anlass genommen, wieder mal reinzuschauen. Um ein einigermaßen repräsentatives Bild zu bekommen, schaute ich mir zehn Folgen aus dem Archiv an und hätte danach gut den Rat der Telefonseelsorge gebrauchen können. Es mischte sich bei mir ein Gefühl von tiefer Depression mit purem Entsetzen darüber, was in diesen Tagen alles Serie werden darf. Gleichzeitig erschütterte mich, dass in Sachen „Lindenstraße“ immer nur über Quoten diskutiert wird, aber nie über den Inhalt.

Ich habe spaßeshalber mal aktuelle Folgenbeschreibungen von „Lindenstraße“ und „Verbotene Liebe“ nebeneinander gehalten und einem Menschen präsentiert, der mit beiden Soaps nicht so bewandert ist. Er vermochte nicht zu sagen, welche von beiden denn nun die anspruchsvollere sein sollte. 

Das kommt davon, wenn man in der „Lindenstraße“ jetzt schon auf Nachbarschaftskonflikte setzt, die bei RTL allemal glaubhafter abgehandelt werden. Da haben doch tatsächlich die Parkettverleger bei Carsten und Käthe die Trittschalldämmung vergessen, und nun erleben die drunter wohnenden Dagdelens die akustische Hölle. Natürlich wehren sie sich. Boxen auf den Schrank gepackt, laut aufgedreht und dann: Gib ihm.

Das ist so banal inszeniert wie es sich liest, und es ist keine Ausnahme. Natürlich war die „Lindenstraße“ immer schon ein Biotop für Versager vom Dienst. Alle Probleme der bundesrepublikanischen Welt müssen dort auf engem Raum abgehandelt werden. Man ist also gewohnt, dass die meisten Figuren aussehen, als wäre das Magengeschwür ihr einziger Freund. Verstörte Menschen schauen verstört und sagen Sätze wie „Ich bin nicht sauer, ich bin nur total enttäuscht.“ Alle sind Weltmeister im Dummgucken, und das Gesamtkonstrukt „Lindenstraße“ wirkt nur noch als Affirmation eines durch und durch pantoffeligen Kleinbürgertums. Das war mal dafür berühmt, dass es Geißendörfers 68er-Geist in Serie verwandelte, und für einige Zeit war das tatsächlich ein kleines bisschen aufregend. Man erinnere sich nur an den ersten schwulen Kuss. Und an die Intensität mit der Mutter Beimer ins nationale Matronenbewusstsein injiziert wurde.

Ein bisschen wirkt die „Lindenstraße“ auf mich wie ein Dorf, das man als junger Mensch verlassen hat und das man bei seiner Rückkehr nach Jahrzehnten unverändert vorfindet. Immer noch weht der Geist von 68, aber er führt halt auch den Staub der kompletten Verschrobenheit mit sich. Die „Lindenstraße“ ist nicht mehr Alt-68er, die „Lindenstraße“ ist nur noch altmodisch.

Mein Vorschlag zur Güte: Man gönnt der Serie noch den 30. Geburtstag 2015. Danach wird abgeschaltet, aber alle Folgen bleiben im Netz und bilden ein kleines Museum der deutschen Fernsehgeschichte. Das erzählt von einer Serie, die sich irgendwann von der Welt da draußen abgekoppelt hat und nur noch in sich existierte. Das gesparte Geld kann man ja dann in die Trittschalldämmung bei Carsten und Käthe investieren. Damit in Haus Nummer drei kein Bürgerkrieg ausbricht.