Herr Tilgen, Sie sind TV-Regisseur und beschreiben in Ihrem Buch "Wie ich mir meinen Platz in der Fernsehhölle verdient habe", was Sie während Ihrer Arbeit bei "DSDS", "Biggest Loser", "Versteckte Kamera" und diversen Scripted Realitys und Dokusoaps erlebt haben. Damit machen Sie gerade einige Schlagzeilen. Warum das Buch, das ja auch eine Abrechnung mit dem bestehenden System ist?

Kai Tilgen: Anfang September 2016 hatte ich einen Tag, an dem alles schief gelaufen ist. Ich habe für eine Scripted Reality gedreht. Und bevor Sie fragen: Ja, auch das kann Spaß machen. Wenn alle wissen was sie tun, ist das toll. Ich hatte an dem Tag eine Zahnwurzelbehandlung und habe mich ans Set geschleppt. In der Geschichte ging es darum, dass ein Geschäftsmann mit seinem noblen Auto gegen ein Haus fährt. Das erste Problem war, dass das Haus nicht an einer Straße lag. Zusätzlich sind Darsteller nicht erschienen und das eigentlich chice Auto war ein Fahrzeug, in das nicht einmal Sie oder ich einsteigen würden. Für jemanden, der immer nah an der Realität bleiben will, war das ein Unding. An dem Tag ist wirklich alles schief gegangen und da hatte ich zum ersten Mal den Gedanken ein Buch zu schreiben. Ich habe das aber nicht gemacht, um etwas zu verändern. Ich alleine kann ja auch gar nichts ändern.

Viele würden vermutlich mit so einem Buch warten, bis sie in Rente sind. Sie wollten nicht so lange warten und gehen damit ja auch das Risiko ein, künftig nicht mehr angefragt zu werden. Wieso?

Die Gefahr ist natürlich vorhanden. Da muss ich jetzt mal schauen, was passiert. Vielleicht ist es Dummheit gewesen, aber ich hatte einen starken Drang und wollte was Neues ausprobieren. Wenn ich nicht mehr gebucht werde, kann ich ja immer noch ein zweites Buch veröffentlichen.

Das sagt sich jetzt so leicht, ein zweites Buch. Aber Sie riskieren damit ja ganz konkret den Job, mit dem Sie sich Ihre Brötchen verdienen. Haben Sie keine Angst, nicht mehr beauftragt zu werden?

Wenn man das so sieht, war es vielleicht wirklich ein bisschen dumm. Aber ich glaube, ich werde immer Arbeit bekommen. Die schwarze Liste der einen ist die weiße Liste der anderen. Irgendwo gibt es immer was. Vielleicht gelingt es mir dadurch ja auch, nicht mehr so viel auf der dunklen Seite der Macht unterwegs zu sein.

Mit der dunklen Seite meinen Sie Formate, in denen die Protagonisten vorgeführt wurden. Sie beschreiben das in Ihrem Buch recht offen und haben das auch selbst so zum Beispiel bei "DSDS" gemacht. Wie haben denn Kollegen und Vorgesetzte auf die Veröffentlichung reagiert?

Ich weiß nicht, ob frenetisch das richtige Wort dafür ist. Vielleicht war es eine Stufe darunter. Alle mit denen ich gesprochen habe, haben sich jedenfalls darüber gefreut. Wörter wie "Nestbeschmutzer" oder "Arschloch" sind bislang noch nicht gefallen. Mir schicken gerade ganz viele ehemalige Kollegen von überall einen Daumen nach oben.

Da ist dann vielleicht die Langzeitbetrachtung interessant, wenn auch die letzten Vorgesetzten mal einen Blick in das Buch geworfen haben…

Genau, wenn ich dann Hartz IV beantragt habe, weil mich keiner mehr will (lacht). Ich war bislang ein Typ der zweiten Reihe. Jetzt bin ich eben auf die andere Seite der Kamera gewechselt und ich bin gespannt, was da noch so auf mich zukommt.

Sind Sie bei einer Produktion mal ins Grübeln gekommen ob das, was Sie da machen, das Richtige ist? Und wenn ja: Bei welcher?

Ja, natürlich. Ich bin ja nicht blöd. Wenn ich im Hotel sitze oder nach einem Dreh nach Hause fahre, denke ich natürlich darüber nach, was ich da gemacht habe. Ich will mich gar nicht schonen und gehe da mit mir selbst hart ins Gericht. Ich habe wirklich schlimme Sachen gemacht. Ich war verantwortlich für die Inszenierung des "DSDS"-Kandidaten mit dem Pissfleck auf der Hose, das ist schon eine schlimme Geschichte gewesen. Aber ich habe da super funktioniert: Das wurde erwartet, ich habe es gemacht und würde das auch wieder tun. Das ist manchmal eben Teil des Jobs.

"Manchmal ist das eben ein Applaus, der von der falschen Seite kommt. Aber das ist auch die Seite, die meine Rechnungen zahlt. Ich bin da ein Söldner."

Sie wissen, dass Sie teilweise schlimme Dinge getan haben und würden es dennoch wieder tun? Wie passt das zusammen?

Ich habe da Spaß dran, dieses manipulieren von Menschen macht mir Freude. Ich weiß, Sie werden mich dafür jetzt hassen. Das schlimme ist: Ich habe sechs Kinder und denen erzähle ich, dass sie gute Menschen sein sollen. Lügt nicht, zeigt anderen Menschen nicht den Mittelfinger und achtet die Leute.

Und im Fernsehen stellen Sie dann Menschen bloß.

Das sind zwei unterschiedliche Kais, die da in mir schlummern. Das ist auch die Magie des Rotlichts der Kamera, das macht was mit den Leuten. Es sind aber teilweise auch einfach die Gesetze, nach denen ich arbeite. Das macht die Branche eben so. Letztendlich ist es eine Mischkalkulation: Wenn ich nur solche Dinge machen sollte, könnte ich das nicht. Aber die Variation von Anforderungen und Leuten macht den Job so reizvoll.

Schämen Sie sich manchmal für das, was Sie tun?

Ja, natürlich. Da schäme ich mich und das tut mir auch Leid. Bei dem eben angesprochenen "DSDS"-Kandidaten weiß ich auch, dass ich ihm eine schlimme Zeit für zwei Monate nach der Ausstrahlung gemacht habe. Aber das komische ist ja: Die Menschen gehen immer noch zu "DSDS". Die werden ja nicht gezwungen und es gibt ihnen auch niemand Geld. Die wissen, was sie erwartet und die kennen auch Dieter Bohlens Sprüche. Trotzdem kommen sie.

Die Sprüche von Bohlen sind das eine. Aber die Nachbearbeitung der Bilder im Anschluss ist etwas, das vielleicht doch nicht jeder kannte damals. Das ist nochmal eine ganz andere Stufe der Verhöhnung.

Ich war an der ersten, zweiten und siebten "DSDS"-Staffel beteiligt. Da kann und will ich mich nicht verstecken. Was da an Mist gelaufen ist, geht auf meine Kappe. Diese Gimmicks kamen in der vierten oder fünften Staffel hinzu. Ich sage aber auch ganz ehrlich: Ich komme aus einem Elternhaus, in dem nur selten gelobt wurde. Früher habe ich über Schauspieler immer gedacht, dass die ihren Beruf gewählt haben, um Applaus zu bekommen, den sie früher nie bekommen haben. Das ist bei mir ganz ähnlich. Manchmal ist das eben ein Applaus, der von der falschen Seite kommt. Aber das ist auch die Seite, die meine Rechnungen zahlt. Ich bin da ein Söldner

Ein Söldner nimmt alles für Geld an. Wo sind Ihre Grenzen?

Ich würde nichts machen, wo Kinder in Gefahr geraten. Mit Kindern und Jugendlichen kann man sowas nicht machen, das ist ein Spiel unter Erwachsenen. Auch "Frauentausch" würde ich nie machen.

16-Jährige, die zu "DSDS" kommen, sind doch aber auch noch Kinder oder Jugendliche.

Das stimmt. Das ist ein Widerspruch, den ich nicht auflösen kann. Aber es gibt tatsächlich so Momente, da habe ich keine Skrupel. Ich hatte bei "DSDS" einen Kandidaten, der wollte Lehrer werden. Ich habe ihn gefragt, welche Note er seiner Stimme geben würde. Er sagte: eine eins. Der konnte nichts. Wenn dann so einer da ist, der schon seit sieben Jahren wählen darf und der meine Kinder mal beurteilen soll, obwohl er sich nicht einmal selbst beurteilen kann, dann sind meine Hemmungen viel geringer.

"Das ist ein Widerspruch, den ich nicht auflösen kann. Aber es gibt tatsächlich so Momente, da habe ich keine Skrupel."

Haben Sie Ihre Arbeitsweise durch die vielen Erfahrungen in den vergangenen Jahren verändert? Sind Sie zurückhaltender geworden?

Nein, ich bin nicht zurückhaltender geworden. Vielleicht hatte ich in letzter Zeit mehr Glück, nicht mehr so oft in solche Situationen gekommen zu sein. Aber ich will nicht ausschließen, dass ich in Zukunft wieder sowas tun werde.

Würden Sie, rückblickend betrachtet, irgendetwas anders machen in Ihrer Karriere?

Ich wäre gerne auf eine Filmhochschule gegangen, die wollten mich aber nicht. Ich hätte mich damals wahrscheinlich auch nicht genommen, als 19-jähriger Abiturient hatte ich null Lebenserfahrung. Sonst würde ich aber nichts anders machen.

Gibt es noch eine Sendung, für die Sie gerne mal arbeiten würden?

Diese Sendung gibt es noch nicht.

Nämlich?

Das wäre eine Sendung, die sich mit Zivilcourage beschäftigt und den Menschen Mut macht, sich für andere zu engagieren.

Auch das ist doch ein großer Widerspruch zu großen Teilen Ihrer Arbeit?

Ja, ich weiß. Aber so wie sich gerade die Gesellschaft entwickelt, ist das etwas, das fehlt. Es geht darum, sich auch mal ein Herz zu nehmen wenn man erkennt, dass jemand in Not ist und man gebraucht wird. Sei es eine alte Frau, die mit ihrem Rolli umgefallen ist - oder auch größere Sachen. Also eine Art "Aktenzeichen XY", aber nicht mit Verbrechen, sondern mit guten Taten.

Sie könnten ja selbst auch Zivilcourage zeigen und nicht mehr an Formaten mitarbeiten, in denen Menschen vorgeführt werden. Das würde die Welt vielleicht auch ein bisschen besser machen.

Das könnte ich machen und das wäre sicher auch Zivilcourage. Aber ich habe sechs Kinder, eine Frau, ein Haus und ein Auto. Ich muss meine Rechnungen bezahlen. Ich möchte nicht rüberkommen als jemand, der denkt er könne es besser als andere. So ist es nicht. Ich funktioniere in dem System gut und man holt mich, weil ich immer mit einem Film nach Hause komme - egal was es ist. 

Herr Tilgen, vielen Dank für das Gespräch.